VG Saarland

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Zitieren als:
VG Saarland, Urteil vom 15.11.2022 - 6 K 323/21 - asyl.net: M31415
https://www.asyl.net/rsdb/m31415
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für eine geschiedene Frau mit Kindern ohne schutzbereite Herkunftsfamilie:

Alleinstehenden und alleinerziehenden Frauen ohne schutzbereite männliche Familienangehörige drohen im Irak landesweit geschlechtsspezifische Verfolgungshandlungen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Irak, Frauen, alleinstehende Frauen, alleinerziehend, Kinder, geschlechtsspezifische Verfolgung,
Normen: AsylG § 3
Auszüge:

[...]

21 Die Klägerinnen haben einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG. Der dies ablehnende Bescheid der Beklagten vom 26.02.2021 ist insoweit rechtswidrig und verletzt die Klägerinnen in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). [...]

28 Als alleinstehende und alleinerziehende Frau ohne männliche schutzbereite Familienangehörige im Irak muss die Klägerin zu 1) ebenso wie auch ihre beiden minderjährigen Töchter, die Klägerinnen zu 2) und 3) landesweit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit geschlechtsspezifische Verfolgungshandlungen durch nichtstaatliche Akteure im Sinne des § 3c Nr. 3 AsylG befürchten, ohne dass der irakische Staat oder andere Organisationen sie schützen könnten.

29 Der Auskunftslage zufolge ist die irakische Gesellschaft von Diskriminierung der Frauen geprägt. Die Frauen werden in ihrer körperlichen und geistigen Integrität verletzt, sie werden gegenüber den Männern diskriminiert, sie werden in ihrer allgemeinen Handlungsfreiheit beschnitten und ihnen wird es sehr erschwert, alleine zu überleben und ein selbstbestimmtes Leben zu führen, am öffentlichen Gesellschaftsleben teilzunehmen, sich zu bilden und entsprechend zu arbeiten. Ihnen drohen Ehrenmorde und Zwangsverheiratung sowie Misshandlung, wenn sie sich nicht den strengen Bekleidungs-, Moral- und Verhaltensvorschriften in der Öffentlichkeit unterordnen. [...]

32,33 Allein lebende Frauen sind im gesamten Irak ein völlig unübliches Phänomen Die permanente Kontrolle unverheirateter bzw. verwitweter oder geschiedener Frauen durch männliche Familienmitglieder ist zentraler Bestandteil irakischer Moral- und Ehrvorstellungen. Es wird erwartet, dass sich die Frauen den männlichen Familienmitgliedern unterordnen. Frauen die sich dem widersetzen, können Opfer von Gewalt im Namen der Ehre werden. Als Frau alleinstehend zu leben, wird im Irak in der Regel nicht akzeptiert, weil es als unangemessenes Verhalten betrachtet wird. Eine Frau, die alleine oder mit einem oder mehreren Kindern aus einer früheren Beziehung lebt, fällt nicht nur auf, sie wird vielmehr von breiten gesellschaftlichen Schichten gemieden bzw. sozial ausgegrenzt, von Männern wie auch von Frauen. Ohne männlichen Schutz sind alleinstehende Frauen dem Risiko körperlicher Misshandlungen ausgesetzt. Sofern diese Frauen Kinder haben, die von ihnen abhängig sind, besteht für diese ebenfalls das Risiko von Misshandlungen. Für eine alleinstehende Frau ohne verwandtschaftliche Kontakte und Unterstützung erweisen sich zahlreiche Alltagshandlungen wie etwa das Finden einer Wohnung als extrem schwierig. Je jünger die Frau ist, umso schwieriger ist ihre Lage. Zudem besteht gerade bei jungen Frauen die Gefahr sexueller Übergriffe und Belästigungen (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 15.01.2015 zu Irak: Zwangsheirat; ferner EASO, Informationsbericht über das Herkunftsland Irak: Gezielte Gewalt gegen Individuen, vom März 2019, und ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Lage von alleinstehenden Frauen, vor allem mit westlicher Gesinnung nach Rückkehr aus dem westlichen Ausland und Asylantragstellung, vom 25.02.2019).

34,35 Die beschriebenen, gezielt an das weibliche Geschlecht anknüpfenden Verfolgungshandlungen gegenüber alleinstehenden Frauen ohne schutzbereite männliche Familienangehörigen sind aufgrund ihrer Art und Wiederholung so gravierend, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte im Verständnis von § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG darstellen. [...]

37 Den Klägerinnen stehen zur Überzeugung des Gerichts keine männlichen schutzbereiten Angehörigen zur Seite. Die Klägerin zu 1) hat in Übereinstimmung auch mit ihrem Vorbringen im Rahmen ihrer Anhörung beim Bundesamt glaubhaft davon berichtet, dass sie sich bereits in Griechenland von ihrem Ehemann getrennt habe, weil dieser Drogen genommen und sie auch körperlich misshandelt habe. Nach ihren weiteren Angaben in der mündlichen Verhandlung, die das Gericht nach dem von der Klägerin zu 1) gewonnenen persönlichen Eindruck ebenfalls für glaubhaft erachtet, können die Klägerinnen im Falle einer Rückkehr in den Irak nicht mit einer Aufnahme in den Haushalt der Familie der Klägerin zu 1) rechnen. Die Familie der Klägerin zu 1) hat aufgrund der von dieser nicht akzeptierten Trennung der Klägerin zu 1) von ihrem Ehemann mit ihr gebrochen. Hierzu hat die Klägerin zu 1) in nachvollziehbarer und stimmiger Weise dargelegt, dass ihre Eltern dagegen gewesen seien, dass sie sich von ihrem Ehemann trenne und dies als Schande empfänden. Ihre Eltern würden ihr unsittliches Verhalten unterstellen und sie nicht mehr akzeptieren. Ihr eigener Bruder habe sogar gedroht, sie zu töten. Mitglieder der Familie der Klägerin zu1) scheiden demnach als schutzbereite männliche Angehörige aus. Da aufgrund der Trennung der Klägerin zu 1) von ihrem Ehemann auch nicht zu erwarten steht, dass die Klägerin zu 1) bei einer Rückkehr in den Irak von der Familie ihres getrennt lebenden Ehemannes aufgenommen würde, verfügen die Klägerin zu 1) und damit auch die Klägerinnen zu 2) und 3) über keinen hinreichenden männlichen Familienanschluss mehr im Irak. [...]