VG Saarland

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Zitieren als:
VG Saarland, Urteil vom 27.01.2023 - 3 K 1165/22 (Asylmagazin 5/2023, S. 165 f.) - asyl.net: M31414
https://www.asyl.net/rsdb/m31414
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für Frau aus Marokko wegen sexueller Orientierung:

Einer lesbischen Frau droht flüchtlingsrelevante Verfolgung in Marokko, weil dort strafrechtliche Vorschriften bestehen, die Homosexualität unter Strafe stellen und auch angewandt werden.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Marokko, homosexuell, lesbisch, sexuelle Orientierung, soziale Gruppe,
Normen: AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4, AsylG § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 3a Abs. 1
Auszüge:

[...]

57 1. Das Gericht ist in der Gesamtschau des Vortrags der Klägerin sowie nach dem im Rahmen der mündlichen Verhandlung von ihr gewonnenen Eindrucks zu der Überzeugung gelangt, dass die Klägerin lesbisch orientiert ist und ihre Sexualität auch auslebt. [...] Dabei wurde im Rahmen der informatorischen Befragung durch das Gericht deutlich, dass die Thematik für die Klägerin, bei der bei der Bewertung ihrer Glaubwürdigkeit und der Glaubhaftigkeit ihrer Angaben auch und gerade ihre individuelle Aussagekompetenz zu berücksichtigen ist, weiterhin schambehaftet ist. Zu berücksichtigen sind auch die kulturellen Unterschiede, die den Maßstab für Plausibilität von Handlungen regelmäßig verschieben. Im Übrigen wirken die Ausführungen der Klägerin nicht gedanklich konstruiert oder plakativ. Aus alldem zieht das Gericht den Schluss, dass das Verhalten der Klägerin nicht lediglich "asyltaktisch" motiviert war, sondern Ausdruck ihrer tatsächlichen sexuellen Orientierung und Lebensführung ist.

58 2. Als lesbische Frau ist die Klägerin in ihrem Heimatland Marokko als Mitglied einer sozialen Gruppe im Sinne von § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von darauf beruhender diskriminierender Verfolgung und Bestrafung im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 3a Abs. 1 AsylG bedroht. [...]

64 In Marokko bestehen strafrechtliche Vorschriften, die spezifisch Homosexualität unter Strafe stellen und in der Praxis angewandt werden. Nach Art. 489 des marokkanischen Strafgesetzbuchs wird jede Person, die mit einem Individuum desselben Geschlechts "unzüchtige oder widernatürliche" Handlungen begeht ("acte impudique ou contre nature avec un individu de son sexe") zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu drei Jahren und einer Geldstrafe bestraft. Nach den vorliegenden aktuellen und insoweit übereinstimmenden Erkenntnisquellen wird der Straftatbestand in der Praxis angewandt. [...]

65 Einer Verfolgung im Sinne von § 3a Abs. 2 Nr. 3 AsylG steht dabei vorliegend nicht entgegen, dass in den zitierten Auskünften jeweils nur vereinzelte Fälle strafrechtlicher Verfolgung bestätigt werden. Zum einen ist nach der genannten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs allein maßgeblich, dass in der Praxis Freiheitsstrafen wegen homosexuellen Handlungen verhängt werden und damit die (konkrete) Gefahr einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung besteht. Diese Voraussetzungen sind im Hinblick auf die berichteten Fälle strafrechtlicher Verfolgung und Bestrafung erfüllt. Zum anderen dürfte die relativ geringe Zahl bekannter und bestätigter Fälle von Verurteilungen wegen homosexueller Handlungen auch darauf zurückzuführen sein, dass Homosexualität in Marokko weitgehend im Verborgenen gelebt wird [...]. Soweit Homosexualität dagegen offen ausgelebt wird, kommt es zu einem harten Durchgreifen der Behörden [...].

66 Es ist daher davon auszugehen, dass Personen, die ihre Homosexualität in Marokko offen ausleben, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit der Gefahr einer strafrechtlichen Verfolgung und Bestrafung ausgesetzt sind. Ob diese Gefahr dadurch verringert werden könnte, dass die Homosexualität nicht offen ausgelebt wird, ist hingegen unbeachtlich. Denn nach der genannten Rechtsprechung kann gerade nicht verlangt werden, dass die sexuelle Identität geheim gehalten oder besondere Zurückhaltung beim Ausleben der sexuellen Ausrichtung geübt wird. [...]