VG Darmstadt

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Zitieren als:
VG Darmstadt, Urteil vom 27.02.2023 - 7 K 4179/17.DA.A - asyl.net: M31410
https://www.asyl.net/rsdb/m31410
Leitsatz:

Abschiebungsverbot für eine alleinerziehende Frau mit vier Kindern aus der Türkei:

1. Der alleinerziehenden Frau und ihren vier Kindern droht im Einzelfall eine Verletzung aus Art. 3 EMRK bei Rückkehr in die Türkei, weil sie ihr Existenzminimum nicht werden sichern können, sodass ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG festzustellen ist.

2. Die überdurchschnittlichen Schwierigkeiten beim Zugang zu höherer Bildung und zum Arbeitsmarkt für Frauen, die insbesondere unter Frauen weit verbreitete Arbeitslosigkeit, und die wenig vorhandenen staatlichen Sozialprogramme, sowie die persönliche Situation der Klägerin (alleinerziehend, Grad der Behinderung von 50, keine Berufsausbildung, Familie in Deutschland, kein Kontakt zum einzig in der Türkei verbliebenen Bruder) legen den Schluss nahe, dass sie das Existenzminimum für sich und ihre Kinder nicht wird sichern können.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Türkei, Frauen, Kurden, Krankheit, alleinerziehend, Kinder, besonders schutzbedürftig, Grad der Behinderung,
Normen: EMRK Art. 3, AufenthG § 60 Abs. 5, AsylG § 3, AsylG § 4
Auszüge:

[...]

Sie hat aber einen Anspruch auf die Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) (III.). [...]

Eine Verfolgungsgefahr resultiert zunächst nicht aus der Zugehörigkeit der Klägerin zur Volksgruppe der Kurden und zwar auch nicht unter Berücksichtigung der aktuellen Entwicklungen in der Türkei. [...]

Es kann davon ausgegangen werden, dass türkische Stellen Regierungsgegner, darunter insbesondere (auch vermeintliche) PKK- und Gülen-Anhänger im Ausland ausspähen, ebenso wie sie Tätigkeiten von in Deutschland registrierten Vereinen beobachten. Mehrere an die Bundesregierung übermittelte Unterlagen und Auslieferungsersuchen legen diese Vermutung nahe. Öffentliche Äußerungen, auch in sozialen Netzwerken, Zeitungsannoncen oder -artikeln, sowie Beteiligung an Demonstrationen, Kongressen, Konzerten, Beerdigungen etc., bei denen Unterstützung für kurdische Belange geäußert wird, können strafrechtlich verfolgt werden, wenn sie als Anstiftung zu konkret separatistischen und terroristischen Aktionen in der Türkei oder als Unterstützung illegaler Organisationen nach dem türkischen Strafgesetzbuch gewertet werden. Aus bekannt gewordenen Fällen ist zu schließen, dass solche Äußerungen und Handlungen zunehmend zu Strafverfolgung und Verurteilung führen und sogar als Indizien für eine Mitgliedschaft in einer Terrororganisation herangezogen werden. Für die Aufnahme strafrechtlicher Ermittlungen reicht hierfür ggf. bereits die Mitgliedschaft in bestimmten deutschen Vereinen oder die Teilnahme an oben aufgeführten Arten von Veranstaltungen aus (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 28.07.2022, S. 15; vgl. zu kritischen Äußerungen auch BFA, Länderinformation der Staatendokumentation Türkei vom 22.09.2022, S. 85 ff.; SFH, Türkei: Teilen und "Liken" von "kritischen" Inhalten auf Facebook vom 29.10.2020). [...]

Ausgehend hiervon liegen ernsthafte und stichhaltige Gründe dafür vor, dass die Klägerin und ihre Kinder tatsächlich Gefahr laufen, in der Türkei einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Die allgemeine Versorgungslage in der Türkei stellt zwar nicht für sich genommen, aber unter Berücksichtigung der individuellen Umstände der Klägerin im konkreten Einzelfall eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK dar. Insbesondere ist nicht davon auszugehen, dass die Klägerin ohne den Ehemann und familiäre Hilfe ihr Existenzminimum in der Türkei wird sichern können.

In der Türkei gibt es keine dem deutschen Recht vergleichbare staatliche Sozialhilfe. [...]

Es gibt 43 Sozialprogramme (2019), welche an bestimmte Bedingungen gekoppelt sind, die nicht immer erfüllt werden können, wie z.B. Sachspenden: Nahrungsmittel, Schulbücher, Heizmaterialien etc.; Kindergeld: einmalige Zahlung, die sich nach der Anzahl der Kinder richtet und 300,00 Türkische Lira für das erste, 400,00 Türkische Lira für das zweite, 600,00 Türkische Lira für das dritte Kind beträgt; Wohnprogramme; Einkommen für Behinderte und Altersschwache zwischen 662,00 Türkische Lira und 992,00 Türkische Lira je nach Grad der Behinderung (vgl. BFA. Länderinformation der Staatendokumentation Türkei vom 22.09.2022, S. 200 f.). [...]

Der Anteil der Bevölkerung, die in Armut lebt, steigt weiter an (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 28.07.2022, S. 21).

Die Arbeitslosigkeit in der Türkei ist mit über 11,5 % hoch (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 28.07.2022, S. 21; BFA, Länderinformation der Staatendokumentation Türkei vom 22.09.2022, S. 164). Frauen haben überdurchschnittliche Schwierigkeiten beim Zugang zu höherer Bildung und zum Arbeitsmarkt. Die durchschnittliche Arbeitslosenquote der Frauen (15,1 %) blieb auch im Jahr 2020 nachhaltig höher als jene der Männer (12,6 %). Nicht einmal ein Drittel der Frauen (32 %) ist in Beschäftigung im Vergleich zu mehr als 70 % der Männer. Die Frauenerwerbsquote der Türkei ist die niedrigste unter den OECD-Ländern. Mit einem Wert von 0,638 (1 = bester Wert) liegt die Türkei auf Platz 133 von 156 untersuchten Ländern im Global Gender Gap Index 2021 (vgl. BFA, Länderinformation der Staatendokumentation Türkei vom 22.09.2022, S. 164, 198). [...]

Letztlich sorgen in der Türkei in vielen Fällen großfamiliäre Strukturen für die Sicherung der Grundversorgung. Nichtregierungsorganisationen, die Bedürftigen helfen, finden sich vereinzelt nur in Großstädten. Die Ausgaben für Sozialleistungen betragen lediglich 12,1 % des Bruttoinlandsprodukts. In Zeiten wirtschaftlicher Not wird die Großfamilie zur wichtigsten Auffangstation (vgl. BFA, Länderinformation der Staatendokumentation Türkei vom 22.09.2022, S. 199).

Die Klägerin verfügt zwar nach ihren Angaben über eine Schulbildung, die sie mit dem deutschen Hauptschulabschluss beendete. Nach ihrem Schulabschluss hat sie aber lediglich kurzzeitig als Kellnerin gearbeitet; einen Beruf hat sie nicht erlernt. In der Türkei war sie Hausfrau und auch derzeit ist sie nicht erwerbstätig. Ferner hat die Klägerin vorgetragen, sie sei in ihrer Erwerbsfähigkeit eingeschränkt und in diesem Rahmen einen Bescheid nach § 152 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) des Hessischen Amts für Versorgung und soziales Darmstadt vom 29.08.2022 vorgelegt, mit dem bei ihr unter Berücksichtigung der Gesundheitsstörungen "organisches Nervenleiden, Psychische Störung und Diabetes mellitus" ein GdB von 50 festgestellt worden ist. Auf die Frage des Gerichts, ob die Klägerin wegen ihrer Krankheit irgendwelche Einschränkungen im Alltag habe, hat sie in der mündlichen Verhandlung glaubhaft angegeben, wenn sie ihre Depressionstabletten nehme, sei sie manchmal sehr schwach und bekomme dann Hilfe von ihrer Schwester, von Nachbarn und vom Jugendamt; sie habe eine Familienhelferin. Die Eltern der Klägerin leben bereits seit der Kindheit der Klägerin in der Bundesrepublik Deutschland. Ferner hat die Klägerin in der mündlichen Verhandlung in Übereinstimmung mit ihren Angaben beim Bundesamt vorgetragen, dass sie zu einem in der Türkei lebenden Bruder schon seit langem keinen Kontakt mehr habe. Die restlichen Geschwister der Klägerin befinden sich nach ihren Angaben in Deutschland. [...]

Außerdem ist zu beachten, dass es sich bei der Klägerin mit ihren vier Kindern, von denen eines 13, zwei sieben und eines vier Jahre alt ist, als Familie (auch) mit kleinen Kindern um eine Personengruppe mit einer grundsätzlichen Vulnerabilität handelt (vgl. EGMR, Urteile vom 21.01.2011 - 30696/09, M.S. S./Belgien u. Griechenland -, NVwZ 2011, 413, und vom 04.11.2014 - 29217/12, Tarakhel/Schweiz -, NVwZ 2015, 127). Die Klägerin gehört mit ihrer Kernfamilie zu den besonders schutzbedürftigen Personen nach Art. 21 ff. der Richtlinie 2013/33/EU.

Im Falle der Klägerin kommt hinzu, dass deren Sohn …, der Kläger zu 1. in dem Verfahren 7 K 445/23.DA.A, ausweislich zweier Berichte des Facharztes für Kinder- und Jugendmedizin - Psychotherapie … vom … 2021 und der Diplom- Psychologin und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin … vom … 2023 an einer Angststörung mit einer Anpassungsstörung im Sinne einer posttraumatischen Belastungsstörung (F43.1) leidet und sich seit dem 19.11.2021 in psychotherapeutischer Behandlung, die dringend indiziert sei, befindet. Der Sohn der Klägerin bedarf damit zusätzlich einer Behandlung, die ebenfalls Kosten und auch Zeitaufwand verursacht. [...]