SG Nürnberg

Merkliste
Zitieren als:
SG Nürnberg, Beschluss vom 09.03.2023 - S 5 SO 25/23 ER - asyl.net: M31406
https://www.asyl.net/rsdb/m31406
Leitsatz:

Zur Dauerhaftigkeit des Aufenthalts von Personen aus der Ukraine bei Gewährung von Eingliederungshilfe:

Die Eingliederungshilfe in Form des Besuchs einer heilpädagogischen Tagesstätte zur Unterstützung des Schulbesuchs für ein schwerbehindertes Kind aus der Ukraine ist zu gewähren, weil ein dauerhafter Aufenthalt in Deutschland zu erwarten ist.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: temporärer Schutz, Ukraine, Schwerbehinderung, Eingliederungshilfe, Sozialrecht, dauerhafter Aufenthalt,
Normen: SGB IX § 100 Abs. 1 S. 1, SGB IX § 90 Abs. 1, 4 und 5, SGB IX § 99 Abs. 1, Richtlinie 2001/55/EG Art. 4 Abs. 1
Auszüge:

[...]

aa. Aufgrund der bei ihm vorliegenden Gesundheitsstörungen ist der Antragsteller wesentlich behindert i.S.d. § 99 Abs. 1 SGB IX. Dies ist zwischen den Beteiligten auch nicht streitig. Durch die beantragte Leistung der Eingliederungshilfe kann auch die Aufgabe der Eingliederungshilfe nach § 90, insbesondere nach § 90 Abs. 1, 4 und 5 SGB IX erfüllt werden. Der Antragsteller ist damit grundsätzlich leistungsberechtigt nach § 99 Abs. 1 SGB IX.

bb. Nach § 100 Abs. 1 Satz 1 SGB IX können Ausländer, die sich im Inland tatsächlich aufhalten, Leistungen nach diesem Teil – 2 des SGB IX – erhalten, soweit dies im Einzelfall gerechtfertigt ist. Die Einschränkung auf Ermessensleistungen nach Satz 1 gilt nicht für Ausländer, die im Besitz einer Niederlassungserlaubnis oder eines befristeten Aufenthaltstitels sind und sich voraussichtlich dauerhaft im Bundesgebiet aufhalten (Satz 2).

Mit (zumindest) überwiegender Wahrscheinlichkeit ist davon auszugehen, dass sich der Antragsteller, der im Besitz eines befristeten Aufenthaltstitels (Aufenthaltserlaubnis für vorerst 2 Jahre), voraussichtlich dauerhaft im Bundesgebiet aufhält und somit die Beschränkung auf Ermessensleistungen nach § 100 Abs. 1 Satz 1 SGB IX in seinem Fall keine Anwendung findet.

Entgegen der Auffassung des Antragsgegners spricht hierbei der Umstand, dass dem Antragsteller – vorerst – nur eine befristete Aufenthaltserlaubnis erteilt worden ist, nicht gegen die Prognose eines dauerhaften Aufenthalts. Dies ergibt sich bereits zwingend aus dem Gesetzeswortlaut ("… im Besitz … eines befristeten Aufenthaltstitels sind und sich voraussichtlich dauerhaft im Bundesgebiet aufhalten."). Ebenso wenig spricht die Begrenzung der Aufenthaltserlaubnis auf 2 Jahre gegen einen dauerhaften Aufenthalt des Antragstellers in Deutschland. Die Befristung resultiert vielmehr aus den der konkret erteilten Aufenthaltserlaubnis zugrundeliegenden allgemeinen europarechtlichen Vorgaben des Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2001/55/EG des Rates vom 20. Juli 2001, die eine individuelle Prüfung der voraussichtlichen Dauer im Einzelfall nicht obsolet machen. Die Befristung ist überdies verlängerbar (vgl. Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2001/55/EG des Rates vom 20. Juli 2001). [...]

Auch der von der Widerspruchsbehörde angestellte Vergleich mit anderen Bürgerkriegsländern ist schon im Ausgangspunkt unzutreffend. Die Ukraine ist seit über einem Jahr einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands, also eines anderen souveränen Staates, mit dem Ziel der existenziellen Vernichtung ausgesetzt. Den allgemeinen, ohne Bezug zum vorliegenden Einzelfall von der Verwaltung vorgenommenen Erwägungen, dass bei vor dem Krieg geflohenen Ukrainern ein dauerhafter Aufenthalt in der Bundesrepublik nicht prognostiziert werden könne, steht im Übrigen z.B. die vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales im Informationsschreiben zur Anwendung des § 100 Abs. 1 SGB IX bei geflüchteten Menschen mit Behinderung aus der Ukrainer vom 29.04.2022 geäußerte Auffassung entgegen, wonach allgemein davon ausgegangen wird, dass ukrainische Geflüchtete länger, unter Umständen dauerhaft in Deutschland bleiben werden.

Letztlich sind aber für die Beurteilung, ob von einem voraussichtlich dauerhaften Aufenthalt des Leistungsberechtigten auszugehen ist, die Umstände des Einzelfalls maßgeblich. Hierzu finden sich in den angefochtenen Bescheiden keinerlei Erwägungen. Auch wurde trotz der bestehenden Pflicht zur Amtsermittlung (vgl. § 20 Abs. 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch – SGB X) im Verwaltungsverfahren diesbezüglich keinerlei Sachverhaltsaufklärung vorgenommen. [...]

Hat aber der Antragsteller die Absicht, in Deutschland zu bleiben und erscheint die Verstetigung seines Aufenthalts vorliegend rechtlich möglich (siehe dazu oben), ist von einer voraussichtlichen Dauerhaftigkeit des Aufenthalts auszugehen. [...]