EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 30.03.2023 - C-338/21 Niederlande gegen S.S., N.Z. und S.S. - asyl.net: M31404
https://www.asyl.net/rsdb/m31404
Leitsatz:

Zum Verhältnis von Dublin-Verfahren und Aufenthaltsrichtlinie für Opfer des Menschenhandels:

1. Die Richtlinie 2004/81/EG (Aufenthaltsrichtlinie für Opfer des Menschenhandels) regelt ein Verfahren, wonach insbesondere Opfer von Menschenhandel, die mit Strafverfolgungsbehörden kooperieren, eine Aufenthaltserlaubnis erhalten können [in der BRD umgesetzt als § 25 Abs. 4a AufenthG].

2. Art. 6 der Richtlinie sieht eine Bedenkzeit für betroffene Personen vor, um sich zu erholen, sich dem Einfluss der Täter*innen zu entziehen und eine fundierte Entscheidung über die Zusammenarbeit mit Strafverfolgungsbehörden zu treffen [hier umgesetzt als § 59 Abs. 7 AufenthG]. Während dieser Bedenkzeit können sie nicht gemäß der Dublin III-Verordnung überstellt werden.

3. Wird ein Antrag nach der Opferschutzrichtlinie abgelehnt und hiergegen ein Rechtsbehelf erhoben, der nach jeweiligem nationalem Recht aufschiebende Wirkung hat und deshalb einer Überstellung nach der Dublin III-VO entgegensteht, handelt es sich nicht um ein Rechtsmittel gemäß Art. 27 Abs. 3 Dublin III-VO, sodass der Ablauf der Überstellungsfrist gemäß Art. 29 Abs. 1, Abs. 2 Dublin-III-VO dadurch weder gehemmt noch unterbrochen wird.  

(Leitsätze der Redaktion)

Siehe auch:

Schlagwörter: Dublinverfahren, Menschenhandel, Opfer von Menschenhandel, Aufenthaltsrichtlinie für Opfer des Menschenhandels, Frist, Dublin III-Verordnung, Überstellungsfrist, wirksamer Rechtsbehelf, Bedenkzeit,
Normen: RL 2004/81/EG Art. 7, RL 2004/81/EG Art. 8, RL 2004/81/EG Art. 6, VO 604/2013 Art. 29 Abs. 1, VO 604/2013 Art. 29 Abs. 2, VO 604/2013 Art. 27 Abs. 3, GR-Charta Art. 47, AufenthG § 25 Abs. 4a, AufenthG § 25 Abs. 4b, AufenthG § 59 Abs. 7
Auszüge:

[...]

28 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 29 Abs. 1 und 2 der Dublin-III-Verordnung in Verbindung mit Art. 27 Abs. 3 dieser Verordnung dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, wonach die Stellung eines Antrags auf Überprüfung einer Entscheidung, mit der einem Drittstaatsangehörigen die Erteilung eines Aufenthaltstitels wegen der Eigenschaft als Opfer des Menschenhandels versagt wird, zum einen zur Aussetzung der Durchführung einer zuvor gegen diesen Drittstaatsangehörigen ergangenen Überstellungsentscheidung und zum anderen zur Aussetzung oder Unterbrechung der Überstellungsfrist führt.

29 Nach Art. 29 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung erfolgt die Überstellung der betroffenen Person in den zuständigen Mitgliedstaat gemäß den innerstaatlichen Rechtsvorschriften des ersuchenden Mitgliedstaats, sobald dies praktisch möglich ist und spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs durch einen anderen Mitgliedstaat oder nach der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf, wenn dieser gemäß Art. 27 Abs. 3 der Verordnung aufschiebende Wirkung hat.

30 Wird die Überstellung nicht innerhalb der Frist von sechs Monaten durchgeführt, so ist nach Art. 29 Abs. 2 dieser Verordnung der für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständige Mitgliedstaat nicht mehr zur Aufnahme oder Wiederaufnahme der betroffenen Person verpflichtet und die Zuständigkeit geht auf den ersuchenden Mitgliedstaat über.

31 Um zu klären, welche Auswirkungen Art. 29 der genannten Verordnung in einer Situation wie der in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden hat, in der die anwendbare nationale Regelung die Anwendung der Richtlinie 2004/81 erleichtern soll, ist erstens zu prüfen, ob diese Richtlinie vorschreibt oder zumindest zulässt, die Durchführung einer zuvor erlassenen Überstellungsentscheidung bis zum Abschluss eines Rechtsbehelfs gegen die abschlägige Entscheidung über einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels wegen der Eigenschaft als Opfer des Menschenhandels auszusetzen. [...]

33 Gemäß Art. 6 Abs. 1 dieser Richtlinie sorgen die Mitgliedstaaten dafür, dass einem Drittstaatsangehörigen, von dem vernünftigerweise angenommen werden kann, dass er Opfer von Straftaten im Zusammenhang mit Menschenhandel sein oder gewesen sein kann, eine Bedenkzeit zugestanden wird, in der er sich erholen und dem Einfluss der Täter entziehen kann, so dass er eine fundierte Entscheidung darüber treffen kann, ob er mit den zuständigen Behörden zusammenarbeitet (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. Oktober 2022, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Rückführung eines Opfers des Menschenhandels], C-66/21, EU:C:2022:809, Rn. 47 und 49).

34 Nach Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie haben die betroffenen Drittstaatsangehörigen während der Bedenkzeit und in Erwartung der Entscheidung der zuständigen Behörden Zugang zu der in Art. 7 dieser Richtlinie vorgesehenen Behandlung, und es darf keine ihre Person betreffende Rückführungsentscheidung vollstreckt werden.

35 Das in Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 2004/81 vorgesehene Vollstreckungsverbot für die Rückführungsentscheidung lässt u. a. nicht zu, dass während der gemäß Art. 6 Abs. 1 dieser Richtlinie eingeräumten Bedenkzeit und in Erwartung der Entscheidung der zuständigen Behörden eine Überstellungsentscheidung durchgeführt wird, die in Anwendung der Dublin-III-Verordnung gegenüber Drittstaatsangehörigen, die in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie fallen, erlassen wurde (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. Oktober 2022, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Rückführung eines Opfers des Menschenhandels], C-66/21, EU:C:2022:809, Rn. 70).

36 Dagegen enthält erstens keine Bestimmung der Richtlinie 2004/81 für die Zeit nach Ablauf dieser Bedenkzeit oder nach der Entscheidung der zuständigen Behörden ein Vollstreckungsverbot für die Rückführungsentscheidung. [...]

39 Da Art. 8 der Richtlinie 2004/81 den betroffenen Drittstaatsangehörigen ermöglicht, unter den in seinem Abs. 1 genannten Voraussetzungen einen Aufenthaltstitel zu erhalten, ergibt sich allerdings aus Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, dass Drittstaatsangehörige, deren auf diese Richtlinie gestützter Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels abgelehnt wurde, über einen wirksamen Rechtsbehelf gegen die diesen Antrag ablehnende Entscheidung verfügen müssen, um u. a. geltend machen zu können, dass die zuständige Behörde Art. 8 Abs. 1 falsch angewandt habe (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. Juni 2022, Skeyes, C-353/20, EU:C:2022:423, Rn. 49 und 50).

40 In Ermangelung einschlägiger Unionsregeln ist es nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung jedes Mitgliedstaats, die verfahrensrechtlichen Modalitäten dieses Rechtsbehelfs festzulegen, vorausgesetzt allerdings [...].

48 Folglich ist es für die Sicherstellung der Wirksamkeit eines Rechtsbehelfs gegen eine abschlägige Entscheidung über den Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels wegen der Eigenschaft als Opfer des Menschenhandels nicht erforderlich, die Durchführung einer zuvor erlassenen Überstellungsentscheidung bis zur Entscheidung über diesen Rechtsbehelf auszuschließen.

49 Nach Art. 4 der Richtlinie 2004/81 hindert diese die Mitgliedstaaten jedoch nicht daran, für die in den Anwendungsbereich der Richtlinie fallenden Personen günstigere Bestimmungen zu erlassen oder beizubehalten.

50 Demnach hindert die Richtlinie 2004/81 einen Mitgliedstaat nicht daran, im Rahmen der Ausübung seiner Verfahrensautonomie zu beschließen, den Schutz für die unter diese Richtlinie fallenden  Drittstaatsangehörigen zu verbessern, indem er einem – behördlichen oder gerichtlichen – Rechtsbehelf gegen eine abschlägige Entscheidung über einen auf die Richtlinie gestützten Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aufschiebende Wirkung in Bezug auf eine zuvor erlassene Überstellungsentscheidung verleiht, um diesen Drittstaatsangehörigen zu ermöglichen, bis zum Abschluss des Rechtsbehelfs in seinem Hoheitsgebiet zu bleiben.

51 Folglich ist zweitens zu klären, ob die Dublin-III-Verordnung die Mitgliedstaaten daran hindert, von dem ihnen bei der Umsetzung der Richtlinie 2004/81 zustehenden Wertungsspielraum Gebrauch zu machen, indem sie vorsehen, dass ein Rechtsbehelf gegen eine gemäß der Richtlinie ergangene Entscheidung eine solche aufschiebende Wirkung hat und zur Aussetzung oder Unterbrechung der Überstellungsfrist führt. [...]

53 Art. 27 Abs. 3 der Dublin-III-Verordnung verlangt daher von den Mitgliedstaaten, den betroffenen Personen die Möglichkeit eines Rechtsbehelfs zu bieten, der zur Aussetzung der Durchführung der gegen sie ergangenen Überstellungsentscheidung führen kann (Urteil vom 22. September 2022, Bundesrepublik Deutschland [Behördliche Aussetzung der Durchführung der Überstellungsentscheidung], C-245/21 und C-248/21, EU:C:2022:709, Rn. 41). [...]

57 Ein behördlicher oder gerichtlicher Rechtsbehelf gegen eine andere als die Überstellungsentscheidung, etwa gegen eine abschlägige Entscheidung über einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels wegen der Eigenschaft als Opfer des Menschenhandels, kann jedoch nicht als ein Rechtsbehelf oder eine Überprüfung im Sinne von Art. 27 Abs. 3 oder 4 der Dublin-III-Verordnung angesehen werden.

58 Bereits nach dem Wortlaut dieser Vorschrift betrifft diese nämlich Verfahren "[z]um Zwecke eines Rechtsbehelfs gegen eine Überstellungsentscheidung oder einer Überprüfung einer Überstellungsentscheidung". Somit sind die Verweise auf "Rechtsbehelf" und "Überprüfung" in dieser Vorschrift dahin zu verstehen, dass sie sich nur auf die in Art. 27 Abs. 1 der Verordnung genannten Rechtsbehelfe gegen Überstellungsentscheidungen und Überprüfungen solcher Entscheidungen beziehen. [...]

60 Da Art. 29 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung die Anwendung einer Ausnahme von dem Grundsatz, dass die Überstellungsfrist ab der Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs läuft, nur bis zur Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung mit aufschiebender Wirkung gemäß Art. 27 Abs. 3 oder 4 der Verordnung vorsieht, kann somit diese Ausnahme im Fall eines Antrags auf Überprüfung einer abschlägigen Entscheidung über einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels wegen der Eigenschaft als Opfer des Menschenhandels oder eines Rechtsbehelfs gegen eine solche Entscheidung selbst dann nicht angewandt werden, wenn die Einlegung eines solchen Rechtsbehelfs nach dem nationalen Recht dazu berechtigt, im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats zu bleiben. [...]

68 In diesem Kontext ist die Klarstellung in Art. 29 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung, dass die Überstellung "gemäß den innerstaatlichen Rechtsvorschriften des ersuchenden Mitgliedstaats" erfolgt, dahin auszulegen, dass die Mitgliedstaaten über einen gewissen Gestaltungsspielraum bei der Festlegung der Bedingungen für die Durchführung von Überstellungsentscheidungen verfügen und insoweit vorsehen dürfen, dass die Durchführung einer Überstellungsentscheidung ausgesetzt werden kann, um im Rahmen der Umsetzung der Richtlinie 2004/81 einen verbesserten Schutz für Drittstaatsangehörige zu gewährleisten.

69 Dieser Spielraum bedeutet jedoch nicht, dass ein Mitgliedstaat als Folge einer sich aus seinem innerstaatlichen Recht ergebenden Aussetzung der Durchführung einer Überstellungsentscheidung die Aussetzung oder Unterbrechung der Überstellungsfrist vorsehen darf.

70 Davon abgesehen, dass die Bezugnahme auf das innerstaatliche Recht in Art. 29 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung die Bedingungen für die Durchführung der Überstellung und nicht die Regeln für die Berechnung der Überstellungsfrist betrifft, würde sich nämlich, da der Ablauf der Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 2 der Verordnung zu einem Übergang der Zuständigkeit zwischen den Mitgliedstaaten führt, die aus der Verordnung folgende Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen den Mitgliedstaaten verändern, wenn jeder Mitgliedstaat die Regeln für die Berechnung dieser Frist entsprechend dem Inhalt seiner nationalen Regelung anpassen dürfte. [...]