VG Göttingen

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Zitieren als:
VG Göttingen, Urteil vom 08.11.2022 - 4 A 175/19 - asyl.net: M31393
https://www.asyl.net/rsdb/m31393
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für lesbische Frau aus der Türkei:

1. Der Klägerin droht nichtstaatliche Verfolgung durch ihre Familie aufgrund ihrer sexuellen Orientierung. Aufgrund der in der Türkei herrschenden Homophobie kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Klägerin als homosexuelle Person ohne familiäre Unterstützung ihre Existenz sichern könnte, sodass sie bei einer Rückkehr auf die finanzielle Unterstützung ihrer Eltern angewiesen und deshalb deren Zugriff ausgesetzt wäre.

2. Eine innerstaatliche Fluchtalternative gemäß § 3e Abs. 1 AsylG ist nicht verfügbar, da es keinen Landesteil gibt, in dem die Klägerin keine begründete Furcht vor Verfolgung haben müsste. Einerseits muss die Klägerin davon ausgehen, dass ihre Eltern über die Großfamilie ihren Aufenthalt in Erfahrung bringen könnten. Andererseits ist es ihr nicht zumutbar, in einer der Großstädte (Ankara, Istanbul, Izmir) oder der Südküste, wo es in Teilbereichen möglich sein soll, Homosexualität zu zeigen, ihr Leben auf diese Teilbereiche zu beschränken und ihre Homosexualität im Übrigen zu verbergen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Türkei, Frauen, homosexuell, geschlechtsspezifische Verfolgung, lesbisch, soziale Gruppe
Normen: AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4 Hs. 2, AsylG § 3a, AsylG § 3c Nr. 3, EMRK Art. 3, AsylG § 3e Abs. 1
Auszüge:

[...]

7 Sie trägt im Klageverfahren erstmals vor, dass sie homosexuell sei. Sie habe dies bei ihrer Anhörung beim Bundesamt nicht angegeben, da ihr hierzu gegenüber den beiden anwesenden Männern der Mut gefehlt habe. Sie habe auch nicht gewusst, dass ihre sexuelle Orientierung in ihrem Asylverfahren eine Rolle spielen könne, da sie hiernach nicht gefragt worden sei. Ihr sei durch den Gegenstand der Befragung vermittelt worden, dass es in der Anhörung ausschließlich um eine politische Verfolgung gehe. Deshalb habe sie auch die Frage, ob sie die Befragung durch weibliches Personal bevorzuge, verneint. Zu ihrer Homosexualität führte sie aus, im Alter von 13 Jahren erkannt zu haben, dass sie homosexuell sei. Sie habe dies jedoch vor ihrem Umfeld und auch insbesondere gegenüber ihrer Familie geheim gehalten. Auch wenn ihre Familie sozialdemokratisch geprägt sei, sei sie dennoch im muslimischen Glaubens- und Traditionsverständnis verhaftet und akzeptiere Homosexualität nicht, sondern sehe sie als Krankheit an, die geheilt werden müsse.
Sie habe sich deshalb gegenüber ihrer Familie nie als homosexuell outen können. [...] In der Türkei habe sie ihre Homosexualität ansatzweise nur im Verborgenen leben können, indem sie Apps und Websites genutzt habe um Kontakte zu lesbischen Frauen herzustellen. Wegen der für ihre Sicherheit unerlässlich notwendigen Geheimhaltung ihrer sexuellen Orientierung hätten sich ihre Kontakte jedoch stets nur auf kurze Beziehungen beschränkt. [...]

25 Die Klägerin gehört einer "sozialen Gruppe" im Sinne von § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG an.

26 § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbs. 2 AsylG, wonach als eine bestimmte soziale Gruppe auch eine Gruppe gelten kann, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Orientierung gründet, bildet einen Unterfall der Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (§ 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG). [...]

36 Das Gericht ist nach den Ausführungen der Klägerin in der mündlichen Verhandlung vom 08.11.2022 davon überzeugt, dass der Klägerin im Falle der Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine asylrelevante Verfolgung droht.

37 Dabei geht das Gericht in Ansehung der aktuellen Auskunftsklage zwar davon aus, dass im hier maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung keine gezielte staatliche Verfolgung der Klägerin und auch keine Gruppenverfolgung von Homosexuellen in der Türkei anzunehmen ist, denn die bestehenden Diskriminierungen erreichen nicht die nach § 3a AsylG erforderliche Eingriffsintensität oder Verfolgungsdichte. [...]

45 Vorliegend ist jedoch ein Fall einer asylrelevanten nichtstaatlichen Verfolgung nach § 3c Nr. 3 AsylG anzunehmen. Denn die Einzelrichterin hat aufgrund der Befragung der Klägerin die Überzeugung gewonnen, dass der Klägerin mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit durch ihre Eltern Schaden an Leib und Leben droht, wenn sie in die Türkei zurückkehren würde, weil ihre Eltern Homosexualität als Krankheit betrachten, die durch eine medizinische Behandlung geheilt werden muss. [...]

47 Die Klägerin stammt nach ihrer schlüssigen und glaubhaften Schilderung aus einer zutiefst religiösen und sehr konservativen Familie. Zwar haben ihre Eltern ihr ein Studium ermöglicht, dies musste sie auf Wunsch ihrer Eltern aber in ihrem Heimatort H. absolvieren und auch während des Studiums zu Hause wohnen. Erst anlässlich ihres Doktorandenstudiums konnte sie durchsetzen, in Istanbul weiterzustudieren und in einer eigenen Wohnung zu leben. Aber nicht nur während ihres Studiums in H., sondern auch während ihrer Zeit in Istanbul stand sie unter der Kontrolle ihrer Eltern. Für ihre Eltern stand eine Verheiratung ihrer Tochter im Vordergrund. Sie übten entsprechenden Druck auf die Klägerin aus und unternahmen ohne deren Wissen und Einverständnis Verkupplungsversuche, die die Klägerin als äußerst demütigend und erniedrigend empfunden hat (s. Sitzungsniederschrift vom 08.11.2022, S. 3).

48 Die Klägerin hat glaubhaft geschildert, dass ihre Eltern Homosexualität als Krankheit betrachteten, die behandelt werden müsse. Ihre Eltern seien der Ansicht, dass Homosexualität mit der islamischen Religion unvereinbar sei. Würden ihre Eltern von ihrer Homosexualität erfahren, würden sie versuchen, sie von ihrer "Krankheit" zu heilen. Die Klägerin sei sich sicher, dass ihr Vater sie in ein Krankenhaus einweisen lassen würde. Sie könne auch nicht ausschließen, dass er, der als ehemaliger Militärangehöriger über eine Waffe verfüge, diese gegen sie einsetzen würde (s. Sitzungsniederschrift S. 2). Demnach droht der Klägerin im Falle ihrer Rückkehr eine schwerwiegende Verletzung ihrer in Art. 1 GG als unantastbar geschützten Menschenwürde (vgl. Marx, AsylG, 10. Auflage 2019, § 1 Rn. 7 m.w.N.). [...]

51 Vorliegend ist darüber hinaus zu berücksichtigen, dass die Klägerin inzwischen vier Jahre in Deutschland lebt, sich hier geoutet hat und ihre Homosexualität lebt (s. Sitzungsniederschrift), sodass auch mit Blick hierauf ihr ein Rückschritt in ihr früheres Leben in der Türkei nicht zumutbar und mit ihrer Menschenwürde unvereinbar ist.

52 Die Klägerin wäre im Falle ihrer Rückkehr auch mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit der Gefahr, sich zwangsweise einer Behandlung ihrer Homosexualität unterziehen zu müssen, ausgesetzt. Sie wäre auf die finanzielle Unterstützung ihrer Eltern angewiesen, würde voraussichtlich wieder zu Hause wohnen und wäre hierdurch dem unmittelbaren Zugriff ihres Vaters ausgesetzt. Nach ihrer glaubhaften Schilderung muss auch damit gerechnet werden, dass ihr Vater zur Durchsetzung einer Behandlung der Klägerin "gegen ihre Homosexualität" Gewalt anwendet. Die Klägerin hat auch keine Möglichkeit, sich dieser Situation zu entziehen. Obwohl sie als studierte Chemikerin über eine qualifizierte Ausbildung verfügt, kann nicht mit der notwendigen Sicherheit davon ausgegangen werden, dass sie eine Arbeitsstelle findet, um selbst ihren Lebensunterhalt zu sichern. Hierzu hat sie in der mündlichen Verhandlung glaubhaft angegeben, dass es für sie bereits vor ihrer Ausreise nicht möglich gewesen sei, ohne entsprechende Beziehungen eine Stelle zu finden. Gänzlich unmöglich wird dies mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit sein, wenn sie nach ihrer Rückkehr sich als Homosexuelle outet, was für die Gefahrenbewertung zugrundezulegen ist. Denn angesichts der in der Türkei herrschenden Homophobie kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Klägerin als Homosexuelle ohne familiäre Unterstützung eine Sicherung ihrer Existenz möglich sein wird. [...]

Hier scheitert die inländische Fluchtalternative daran, dass es keinen Landesteil gibt, in dem die Klägerin keine begründete Furcht vor Verfolgung haben muss. Zwar heißt es im Lagebericht des Auswärtigen Amtes, dass es in Großstädten (Istanbul, Izmir, Ankara) und an der Südküste in bestimmten Bereichen möglich sei, Homosexualität zu zeigen. Dies ist im vorliegenden Zusammenhang jedoch unerheblich. Denn diese Feststellung zielt ersichtlich darauf ab, dass in diesen Gebieten für LGBTI-Personen - jedenfalls mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit - keine Verfolgungshandlungen durch die anderen Bewohner dieser Gegenden drohen. Im vorliegenden Fall gehen die Verfolgungshandlungen indes von der Familie der Klägerin aus. Um dieser Bedrohung zu entgehen, müsste die Klägerin auch in Großstädten wie Istanbul, Izmir oder Ankara mehr oder weniger versteckt leben, so dass von einer "Aufnahme" in diesem Landesteil gemäß § 3e Abs. 1 AsylG nicht die Rede sein kann. Denn es ist nach den überzeugenden Angaben der Klägerin davon auszugehen, dass ihre Eltern über die Großfamilie den Aufenthalt der Klägerin in Erfahrung bringen könnten [...].

57 Ungeachtet dessen und insoweit die Entscheidung selbstständig tragend scheidet eine inländische Fluchtalternative auch deshalb aus, weil nach den aktuellen Erkenntnismitteln in Großstädten (Istanbul, Izmir, Ankara) und an der Südküste es lediglich "in bestimmten Teilbereichen" möglich sein soll, Homosexualität zu zeigen. Dies versteht die Einzelrichterin so, dass auch in den genannten Großstädten nicht überall, sondern offenbar nur in bestimmten Stadtteilen, Homosexualität gezeigt werden kann. Es ist der Klägerin jedoch nicht zumutbar und kann von ihr auch nicht vernünftigerweise erwartet werden, ihr Leben in einer der genannten Großstädte auf einen bestimmten Stadtteil zu beschränken und gewissermaßen in einem Ghetto zu leben. Dies gilt gleichermaßen, soweit es auch an der Südküste möglich sein soll, in bestimmten Teilbereichen Homosexualität zu zeigen. [...]