VG Bremen

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Zitieren als:
VG Bremen, Urteil vom 19.12.2022 - 2 K 318/20 - asyl.net: M31391
https://www.asyl.net/rsdb/m31391
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für kurdische Person aus der Türkei wegen Verdachts der Unterstützung der PKK:

Personen, die für die PKK oder eine mit der PKK verbündete Organisation tätig sind oder waren oder denen diese Eigenschaft zugeschrieben wird, müssen in der Türkei mit langen Haftstrafen rechnen, können kein faires Verfahren erwarten und es besteht das erhebliche Risiko, in Polizeigewahrsam oder Haft von Sicherheitskräften misshandelt zu werden.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Türkei, Kurden, Vorverfolgung, PKK, politische Verfolgung, DTP
Normen: AsylG § 3, AsylG 3a Abs. 1, AsylG § 3a Abs. 2, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 5
Auszüge:

[...]

34 Die Furcht des Klägers vor Verfolgung ist begründet. Der Kläger ist zur Überzeugung des Einzelrichters vorverfolgt ausgereist, so dass bei ihm gemäß Art. 4 Abs. 4 Qualifikationsrichtlinie hierfür bereits eine tatsächliche Vermutung streitet (1.). Dessen ungeachtet droht der Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bei einer hypothetischen Rückkehr in die Türkei verfolgt zu werden (2.).

35 1. Dem Kläger kommt die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 Qualifikationsrichtlinie zugute, so dass für ihn die tatsächliche Vermutung streitet, dass seine Furcht vor Verfolgung begründet ist. [...]

36 a) Der Kläger hat in der persönlichen Anhörung vor dem Bundesamt und sodann in der mündlichen Verhandlung schlüssig, substantiiert und in den wesentlichen Punkten widerspruchsfrei geschildert, dass er im Jahre 2006 wegen seiner Arbeit für die DTP festgenommen worden sei. Ihm sei Mitgliedschaft in der PKK vorgeworfen worden und er sei zu einer Freiheitsstrafe von insgesamt ... Jahren ... verurteilt worden. Der Einzelrichter hat keine Zweifel daran, dass der Kläger tatsächlich inhaftiert war und vorzeitig im ... 2016 wegen guter Führung aus der Haft entlassen wurde. Der Einzelrichter ist zudem davon überzeugt, dass der Kläger in der Haft misshandelt wurde. Diesbezüglich hat der Kläger geschildert, in der Zeit während der Haft gefoltert und ständig geschlagen worden zu sein. Deshalb sei er psychisch erkrankt. [...]

39 b) Die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 Qualifikationsrichtlinie ist auch nicht widerlegt. [...]

41 Es sind keine stichhaltigen Gründe ersichtlich, die die Wiederholungsträchtigkeit der erlebten Verfolgung entkräften. Insbesondere stellen weder der Freispruch des Klägers von dem Vorwurf der Propaganda für eine Terrororganisation durch das 2. Strafgericht von ... am ... 2019 noch die verzögerte Ausreise des Klägers solche Gründe dar. [...]

43 [...] Personen, die für die PKK oder eine mit der PKK verbündete Organisation tätig sind oder waren oder ihnen diese Eigenschaft zugeschrieben wird, müssen in der Türkei mit langen Haftstrafen rechnen (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Türkei, 06. Dezember 2021, S. 172). Wegen PKK-Verbindungen Verhaftete können keine fairen Verfahren erwarten und es besteht für sie ein erhebliches Risiko, in Polizeigewahrsam oder Haft durch Sicherheitskräfte misshandelt zu werden (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, Stand Juni 2021, S. 12, 18). Über die letzten vier Jahre wird von einer Zunahme von Vorwürfen über Folter, Misshandlung und grausame und unmenschliche oder erniedrigende Behandlung in Polizeigewahrsam und Gefängnissen berichtet. Betroffen sind sowohl Personen, welche wegen politischer als auch gewöhnlicher Straftaten angeklagt sind. [...]

48 Eine flüchtlingsschutzrelevante Verfolgungsgefahr ergibt sich aus den von dem Kläger angeführten individuellen Umständen. Nach gegenwärtiger Erkenntnislage droht der Kläger in der Türkei wegen der ihm zugeschriebenen Mitgliedschaft in der PKK und seiner einschlägigen Verurteilung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit verhaftet und erneut misshandelt zu werden. Insoweit wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf die obigen Ausführungen Bezug genommen. [...]