VG Bremen

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Zitieren als:
VG Bremen, Urteil vom 06.01.2023 - 2 K 1549/20 - asyl.net: M31390
https://www.asyl.net/rsdb/m31390
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für Kurden aus der Türkei aufgrund exilpolitischer Tätigkeiten in Deutschland:

Wegen seiner Aktivitäten für die HDP in Deutschland droht dem Kläger bei Rückkehr in die Türkei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr der willkürlichen Verhaftung, körperlicher wie psychischer Misshandlungen durch türkische Sicherheitskräfte und ein unfaires Strafverfahren.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Türkei, HDP, HADEP, Strafverfahren, Terrorverdacht, PKK, Kurden, politische Verfolgung, Vorverfolgung, Nachfluchtgründe, subjektive Nachfluchtgründe,
Normen: AsylG § 3 Abs.1, AsylG § 10, VwGO § 60
Auszüge:

[...]

29 Ausgehend von diesen Grundsätzen führt das Begehren des Klägers zum Erfolg. Ihm droht wegen seines öffentlichkeitswirksamen Engagements für die HDP und damit zusammenhängenden gegen ihn gerichteten strafrechtlichen Verfolgungsmaßnahmen in der Türkei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine relevante Verfolgung. [...]

32 [...] Der Kläger engagierte sich seinen glaubhaften und detaillierten Angaben zufolge in der Türkei in Mus und Malatya in hohem Maße in der Jugendorganisation der HDP, organisierte Picknicks, setzte sich für die Aufarbeitung von Massakern in seiner Region ein, und stand hinter den politischen Zielen der HDP. Ausweislich der eingereichten Gerichtsprotokolle, die mit den Schilderungen des Klägers übereinstimmen, wurde u.a. er wegen Mitorganisation eines am 14.5.2016 ungenehmigten Picknicks der HDP für ca. 250-300 Personen, bei der ein Theaterstück aufgeführt werden sollte, von der Staatsanwaltschaft wegen Verstoßes gegen das Terrorismusbekämpfungsgesetz, das Gesetz zu Versammlungen und Demonstrationen und das Türkische Strafgesetz durch die im Theaterstück enthaltene Verherrlichung der Gewalt und des Zwangs der Terrororganisation angeklagt (Anklageschrift vom 20.2.2018, Geschäftszeichen 2018/575). Die Anklage wurde von der 2. Großen Strafkammer in Adiyaman am 9.3.2018 zugelassen [...]. Insoweit besteht an der Richtigkeit der Angaben des Klägers kein Zweifel. [...]

35 Insgesamt ist damit zum Zeitpunkt der Ausreise trotz seines Engagements für die Jugendorganisation der HDP und des gegen ihn laufenden Strafverfahrens nicht von einer besonderen Exponiertheit des Klägers auszugehen.

36 Zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt stellt sich die Situation jedoch anders dar. Denn der Kläger ist fußend auf seinen Aktivitäten für die HDP in Deutschland asylrelevant exilpolitisch tätig. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung überzeugend dargelegt, dass er bei kurdischen Demonstrationen, auf Youtube und in türkischen Medien (Medyahaber) öffentlich, zum Teil zusammen mit bekannten HDP-Exilpolitkern [...] auftritt und u.a. für eine Gestaltung des türkischen Staates nach den Ideen von Öcalan eintritt. Die in der mündlichen Verhandlung in Augenschein genommen Videos bestätigen dies. Dass der Kläger eine Reichweite hat, die in der Türkei wahrgenommen wird, bestätigt das ausweislich seines e-Devlet-Accounts aktuell vor dem Strafgericht in Mus (3. Asliye Ceza Mahkemesi) eingeleitete Verfahren, das auf einer Beschwerde eines Mannes namens M. beruht, der den Kläger angezeigt hat, weil dieser sich in einem Tweet für kurdische Opfer eines Massakers, für das M. verantwortlich sein soll, eingesetzt hat. [...] Bei einer Rückkehr in die Türkei ist vor diesem Hintergrund beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger wegen seines Strafverfahrens aus dem Jahr 2018, des neuen Strafverfahrens, in dem ausweislich des e-Devlet-Accounts am 2.9.2022 ein Anhörungstermin angesetzt war, sowie der öffentlichen Auftritte des Klägers als auch in Deutschland engagierter HDP-Politiker und Interview-Partner, der den türkischen Staat offen kritisiert, unmittelbar in das Visier des türkischen Staates gerät. Seine Inhaftierung im Zusammenhang mit dem Vorwurf der Terrorpropaganda erscheint beachtlich wahrscheinlich.

37 Daher beinhaltet eine Rückkehr in die Türkei für den Kläger ein unkalkulierbares Risiko. Ihm droht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr willkürlicher Verhaftung und körperlicher wie psychischer Misshandlungen von Seiten der türkischen Sicherheitskräfte und die Gefahr, einem unfairen Strafverfahren ausgesetzt zu sein. [...]