VG München

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Zitieren als:
VG München, Urteil vom 30.03.2022 - M 28 K 17.46212 - asyl.net: M31389
https://www.asyl.net/rsdb/m31389
Leitsatz:

Abschiebungsverbot für psychisch schwer erkrankte Person aus der Türkei:

1. Die an einer seltenen Kombination mehrerer schwerer psychischen Erkrankungen leidende Klägerin würde sich im Falle der Rückkehr in die Türkei in einer für sie lebensbedrohlichen Situation wiederfinden.

2. Zwar ist die Behandlung psychischer Erkrankungen in der Türkei grundsätzlich möglich, allerdings wird die Klägerin bei Würdigung aller Umstände die erforderliche Behandlung nicht (rechtzeitig) in Anspruch nehmen können.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Türkei, psychische Erkrankung, Posttraumatische Belastungsstörung, Angststörung, Suizidalität, Retraumatisierung,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7, AufenthG § 60 Abs. 5
Auszüge:

[...]

14 a) Im Hinblick auf die von der Klagepartei vorgetragenen psychischen Erkrankungen liegt ein (krankheitsbedingtes) Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vor. [...]

Nach Überzeugung des Einzelrichters belegen jedenfalls die zuletzt vorgelegte, fachärztlich-psychiatrische gutachterliche Stellungnahme der Fachärztin .... vom ... 2022 sowie deren inhaltlich überzeugenden Ausführungen in der mündlichen Verhandlung, dass die Klägerin an einer lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankung leidet, die sich alsbald durch die Abschiebung wesentlich verschlimmern würde. Nach Auskunft der behandelnden Ärztin handele es sich um schwere psychische Erkrankungen mit hohem Risiko zu akuter Exazerbation mit stationärer Behandlungsbedürftigkeit und Suizidalität sowie weiterer Chronifizierung vor allem bei mangelhafter Behandlung und/oder Retraumatisierung bzw. starker emotionaler Belastung. Im dokumentierten Behandlungszeitraum habe sich eine fortschreitende Verschlechterung der depressiven Erkrankung mit erheblichem Risiko zu schneller Exazerbation mit akuter Suizidalität bei zusätzlicher emotionaler Belastung gezeigt. Die Klägerin sei auf engmaschige psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung angewiesen. Eine Abschiebung in die Türkei sei für die Klägerin ein emotional schwerst bedrohliches Szenario, das sie aus psychiatrischer Sicht nicht mehr kompensieren könnte und somit die erhebliche Gefahr beinhaltet, dass die Gesundheit der Klägerin ernsthaft weiter geschädigt wird bis zu akuter Lebensgefahr. Diese fortgesetzte weitere Gesundheitsschädigung würde im Herkunftsland selbst durch fachgerechte Behandlung nicht aufgefangen werden können. Der Eintritt der geschilderten Gesundheitsgefahren sei mit höchster Wahrscheinlichkeit anzunehmen. [...]

22 In Anbetracht der ärztlichen Ausführungen sowie dem (desolaten) persönlichen Eindruck von der Klägerin in der mündlichen Verhandlung ist davon auszugehen, dass sich die Klägerin, die an einer eher seltenen Kombination mehrerer schwerer psychischer Erkrankungen leidet, von denen jedenfalls die rezidivierende depressive Störung besonders schwer ausgeprägt ist, im Falle einer Rückkehr in die Türkei alsbald in einer für sie lebensbedrohlichen Situation wiederfände und sie "gleichsam sehenden Auges dem Tod oder schwersten Verletzungen" ausgeliefert werden würde. Zwar ist eine Behandlung psychischer Erkrankungen grundsätzlich auch in der Türkei möglich (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 3. Juni 2021, Stand: April 2021, S. 22). Im ganz konkreten Einzelfall der Klägerin kann das Vorliegen eines Abschiebungsverbots jedoch nicht mit dem allgemeinen Hinweis auf die grundsätzliche Behandelbarkeit der Erkrankungen der Klägerin verneint werden, da bei Würdigung aller Umstände des Falles vorliegend davon ausgegangen werden muss, dass die Klägerin bei einer Abschiebung in die Türkei eine ausreichende, aber auch erforderliche Behandlung nicht (rechtzeitig) in Anspruch nehmen wird können. [...] Weiter führte die Fachärztin aus, dass ein Abbruch der therapeutischen Beziehung in Deutschland die Klägerin erheblich destabilisieren würde, da gerade schwer psychisch Kranke große Schwierigkeiten hätten, Vertrauen zu anderen Menschen aufzubauen. Bei einem zusätzlich entwurzelten Menschen mit Fluchthintergrund und ohne äußere Sicherheit sei oft die therapeutische Beziehung lange Zeit der einzige feste Halt. Falle dies gezwungenermaßen und ohne den notwendigen langwierigen Ablösungsprozess weg, bestehe ein hohes Risiko, dass der Patient jeden Lebenssinn verliere, mit der Folge erheblicher Suizidgefahr. Der Eintritt der geschilderten gefahren sei mit höchster Wahrscheinlichkeit anzunehmen. Nach alledem wäre bei einer Abschiebung in die Türkei nicht hinreichend gesichert, dass die Klägerin alsbald die ausreichende, aber auch erforderliche medizinische Behandlung in Anspruch nehmen kann, die notwendig wäre, um eine alsbaldige wesentliche Verschlimmerung ihrer Erkrankungen zu verhindern. [...]