VG Kassel

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Zitieren als:
VG Kassel, Urteil vom 06.04.2022 - 7 K 1139/20.KS.A - asyl.net: M31388
https://www.asyl.net/rsdb/m31388
Leitsatz:

Ablehnung eines Asylfolgeantrags wegen Ungereimtheiten des Vortrags bezüglich in der Türkei anhängiger Strafverfahren:

Aufgrund der bloßen Vorlage von Kopien aus dem türkischen Justiz-Netzwerk UYAP ist nicht von einer veränderten Sachlage aufgrund eines in der Türkei anhängigen Strafverfahrens auszugehen. Der Asylfolgeantrag ist gemäß § 71 Abs. 1 S. 1 AsylG, § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG als unzulässig abzulehnen.

(Leitsätze der Redaktion)

Siehe auch:

  • Johannes Murmann und Christopher Wohnig: "Das UYAP-System – asylrelevante Problemlagen", Asylmagazin 5/2023, S. 134
Schlagwörter: Türkei, politische Verfolgung, Asylfolgeantrag, UYAP, Strafverfahren, politische Verfolgung, neue Beweismittel, Änderung der Sachlage,
Normen: AsylG § 71 Abs. 1 S. 1, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 5
Auszüge:

[...]

Am 10. Juli 2019 stellten die Kläger Asylfolgeanträge. Sie trugen im Wesentlichen vor, dass ihnen am 3. Juni 2019 von einem türkischen Anwalt, der anonym bleiben wolle, Unterlagen übermittelt worden seien, die nachweisen würden, dass gegen den Kläger zu 1. ein am ... 2018 von der Generalstaatsanwaltschaft beantragter und am ... 2018 vom Strafgericht erlassener Vorführungsbefehl erlassen worden sei. Daraus ergebe sich die Existenz eines Ermittlungsverfahrens wegen Mitgliedschaft in einer Terrororganisation und wegen Propaganda gegen den Kläger zu 1.. Der Kläger zu 1. müsse danach damit rechnen, auf unbestimmte Zeit inhaftiert zu werden und in einem nicht rechtsstaatlichen Verfahren verurteilt zu werden. [...]

Eine nachträglich zugunsten der Kläger eingetretene Änderung der dem ursprünglichen Verwaltungsakt zugrundeliegenden Sachlage (§ 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG) ist nicht gegeben. [...]

Die zum Beleg einer dem Kläger zu 1. nunmehr (angeblich) drohenden politischen Verfolgung nachgereichten strafprozessualen Unterlagen (Bl. 128 bis 137 der Gerichtsakte) führen zu keiner anderen Bewertung. Diesen Unterlagen zufolge soll gegen den Kläger ein Ermittlungsverfahren wegen Unterstützung der Terrororganisation PKK/KCK eröffnet und Haftbefehl ergangen sein. Die Einzelrichterin ist jedoch von der Echtheit der Dokumente nicht überzeugt. [...]

Zweifel an der Authentizität ergeben sich zunächst aus den unterschiedlichen Zeitpunkten und den Umständen, unter denen der Kläger zu 1. die zur Begründung seines Asylfolgeantrages vorgelegten Unterlagen erlangt haben will. Diese will er nach seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung im Jahr 2019 von einem Rechtsanwalt (...) aus der Türkei per Mail erhalten haben. Zuvor hat er erklärt, dass er von der Existenz der Unterlagen im Jahr 2020 erfahren und diese im August 2021 über einen Bekannten (Herrn …), der diese aus der Türkei mitgebracht hat, erhalten habe. [...]

Außerdem fällt auf, dass der Kläger zu 1., der keine Auszüge zum angeblich gegen ihn anhängigen Verfahren aus e-devlet und/oder UYAP einreichte, dies u.a. damit begründete, es handle sich während des Ermittlungsverfahrens und vor Eröffnung des gerichtlichen Verfahrens um eine nicht einsehbare Verschlusssache, die erst mit Übergang ins gerichtliche Verfahren bei e-devlet eingetragen werde. Dann erschließt sich aber nicht, warum auf der vorgelegten Kopie des Dokuments (Bl. 131 der Gerichtsakte) ausdrücklich ein Code angeführt wird, um das Dokument in UYAP aufzurufen. Dabei verkennt das Gericht nicht, dass nach der Auskunftslage teilweise berichtet wird, ein Zugriff auf die verfahrensrelevanten Akten via UYAP sei nicht möglich, bevor das Gericht die Anklage akzeptiert habe, und auch darüber hinaus unterlägen die Einsichtmöglichkeiten - vor allem in Fällen von Terrorismusverdacht - vielfältigen Einschränkungen (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe: Zugang zu verfahrensrelevanten Akten, 01.02.2019, S. 5 ff.). Das räumt freilich nicht die Tatsache aus der Welt, dass das in Kopie vorgelegte Dokument im konkreten Fall gerade einen Code enthält. [...]

Des Weiteren verstärkt die Darstellung des Klägers zu 1., wie er letztendlich in den Besitz der zur Begründung seines Asylfolgeantrages vorgelegten Unterlagen gekommen sein will, die Zweifel an deren Authentizität. Danach soll der in der Türkei beauftragte Rechtsanwalt durch Bestechung eines Justizangehörigen Fotografien der Dokumente erhalten und weitergeleitet haben. Mit dieser Behauptung will der Kläger zu 1. wohl erklären, aus welchem Grund er nur Kopien und keine Originale vorlegen konnte. Da die vorgelegten Dokumente (z.B. Bl. 131 der Gerichtsakte) mit einer UYAP-Nr. versehen sind, wäre es dem in der Türkei beauftragten Rechtsanwalt möglich gewesen, über eine UYAP-Auskunft an die Unterlagen zu gelangen. [...]

Die ursprüngliche Darstellung des Klägers zu 1., die er noch in der mündlichen Verhandlung aufrechterhalten hat, er habe sich keinen Zugang in das UYAP-System verschaffen können, weil er weder die erforderliche Personalnummer, noch einen Code dafür habe, da das türkische Generalkonsulat in Frankfurt ihm zweimal die Ausstellung eines Personaldokuments unter Hinweis auf einen eingetragenen Haftbefehl verweigert habe, hat die dargelegten Unklarheiten noch verstärkt. [...]

Angesichts der Fülle der Ungereimtheiten, die sich bei der Würdigung des klägerischen Vortrags und der eingereichten Unterlagen ergab, sah die Einzelrichterin keine Veranlassung, einen Sachverständigen zu beauftragen, um die Echtheit der Urkunden über das angebliche Ermittlungsverfahren gegen den Kläger untersuchen zu lassen. [...]