VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Beschluss vom 09.02.2023 - 13a ZB 22.30152 (Asylmagazin 5/2023, S. 168 ff.) - asyl.net: M31382
https://www.asyl.net/rsdb/m31382
Leitsatz:

Unverhältnismäßige Strafverfolgung wegen Präsidentenbeleidigung in der Türkei:

1. Eine unverhältnismäßige Strafverfolgung gemäß § 3a Abs. 2 Nr. 3 AsylG begründet nur dann flüchtlingsrelevante Verfolgung gemäß § 3 Abs. 1 AsylG, wenn die Furcht vor Verfolgung auf einem Verfolgungsgrund gemäß § 3b AsylG beruht und auch die konkrete Strafverfolgungspraxis diese Furcht begründet.

2. Ob eine Strafverfolgung wegen Präsidentenbeleidigung nach Art. 299 türkisches StGB im konkreten Einzelfall eine Verfolgung gemäß § 3 Abs. 1 AsylG darstellt, hängt deshalb davon ab, ob die betroffene Person wegen eines Verfolgungsgrundes gemäß § 3b AsylG eine härtere als die sonst übliche Behandlung erleidet (sog. Politmalus).

3. Angesichts des Umstands, dass es laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in der Türkei allein im Jahr 2019 etwa 10.000 Verurteilungen wegen Präsidentenbeleidigung gegeben hat, wohingegen es in der siebenjährigen Amtszeit von Erdogans Vorgänger Gül nur 233 Verurteilungen gegeben hat, dürfte viel dafür sprechen, dass der prokurdischen und regimekritische Klägerin aufgrund des Vorwurfs der Präsidentenbeleidigung eine solche härtere als die sonst übliche Behandlung und mithin politische Verfolgung droht (im Ergebnis offen gelassen).

(Leitsätze der Redaktion; siehe auch: VG Osnabrück, Urteil vom 01.07.2020 - 5 A 338/18 - asyl.net: M28860)

Schlagwörter: Türkei, Strafverfahren, Verfolgungsgrund, Verhältnismäßigkeit, Präsidentenbeleidigung, Politmalus, Kurden, unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung, politische Verfolgung,
Normen: AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3a Abs. 2 Nr. 5, AsylG § 3b, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 5, tStGB Art. 299 Abs. 1, tStGB Art. 299 Abs. 3
Auszüge:

[...]

Nach den in ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 16a Abs. 1 GG aufgestellten Grundsätzen ist eine Verfolgung dann eine politische, wenn sie dem Einzelnen in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale gezielt Rechtsverletzungen zufügt, die ihn ihrer Intensität nach aus der übergreifenden Friedensordnung der staatlichen Einheit ausgrenzen (siehe nur BVerfG, B.v. 4.12.2012 – 2 BvR 2954/09 – NVwZ 2013, 500). Im Hinblick auf Strafverfolgungsmaßnahmen gelte dies dann nicht, wenn die staatliche Maßnahme allein dem – grundsätzlich legitimen – staatlichen Rechtsgüterschutz diene oder sie nicht über das hinausgehe, was auch bei der Ahndung sonstiger krimineller Taten ohne politischen Bezug regelmäßig angewandt werde. Der Flüchtlingsschutz gewähre keinen Schutz vor drohenden (auch massiven) Verfolgungsmaßnahmen, die keinen politischen Charakter hätten. Eine Strafverfolgung könne aber in politische Verfolgung umschlagen, wenn objektive Umstände darauf schließen ließen, dass der Betroffene wegen eines asylerheblichen Merkmals eine härtere als die sonst übliche Behandlung erleide (so genannter Politmalus). [...]

14 Gemessen hieran bedarf es im ersten Schritt einer Bewertung, ob schon alleine die Strafnorm eine politische Verfolgung darstellt und deshalb asylbegründend wirken kann. Die Bewertung setzt voraus, dass zunächst Inhalt und Reichweite der fraglichen Rechtsnorm bestimmt wird (BVerfG, B.v. 1.7.1987 – 2 BvR 478/86 – NVwZ 1988, 237). Dies müsse anhand ihres Wortlauts erfolgen, ggf.sei zur Bestimmung der Reichweite des Verbots die Ermittlung der ausländischen Rechtsauslegung und -anwendung erforderlich. Neben der Bewertung der Strafnorm sei festzustellen, ob die Strafverfolgungspraxis des Heimatstaats einen Verfolgungscharakter aufweise, und ob die verhängte Strafe eine unverhältnismäßige, (auch) an asylerhebliche Merkmale anknüpfende Sanktion darstelle (BVerfG, B.v. 4.12.2012 – 2 BvR 2954/09 – NVwZ 2013, 500). Die Frage, ob ein in der Heimat anhängiges Strafverfahren politische Verfolgung im Sinne des Asylrechts sei, hänge von der Auslegung und Anwendung der Strafvorschriften durch die dortigen Strafgerichte ab (BVerwG, B.v. 3.8.2006 – 1 B 20.06 – juris; BVerwG, U.v. 19.5.1987 – 9 C 184.86 – NVwZ 1987, 895 zu Art 141 und 142 tStGB – Staatsschutzvorschriften). Dies sei anhand der besonderen Umstände des Einzelfalls zu prüfen. Entscheidend sei, ob der Staat lediglich Angriffe auf seine Grundordnung abwehren, die Allgemeinheit vor Gefahren schützen, seinen Bestand wahren und die öffentliche Sicherheit und Ordnung aufrechterhalten wolle oder ob er gleichzeitig auch die Absicht verfolge, den Straftäter wegen seiner abweichenden Überzeugung oder wegen sonstiger asylerheblicher persönlicher Merkmale zu treffen. Nur in dem letztgenannten Fall liege eine politische Verfolgung vor. [...]

16 Die Frage, ob die abstrakte Strafandrohung einer "Präsidentenbeleidigung" als eine unverhältnismäßige Strafverfolgung zu bewerten ist (erste Frage), greift isoliert einen Gesichtspunkt aus dem Tatbestand der flüchtlingsrelevanten Verfolgung heraus. Denn selbst wenn eine Strafnorm schon für sich betrachtet eine diskriminierende Wirkung hätte – wie etwa in dem zitierten Fall eines strafbewehrten Verbots von Handlungen, die der Staatsreligion des Herkunftslands zuwiderlaufen (EuGH, U.v. 4.10.2018 – C-56/17 – NVwZ 2019, 634) –, muss darüber hinaus immer noch geprüft werden, wie mit diesem Verbot in der Strafrechtspraxis vor Ort umgegangen wird und ob Verstöße gegen dieses Verbot auch entsprechend geahndet werden. [...]

17 Soweit sich die Fragen darauf beziehen, ob die abstrakte Strafandrohung ausreichend sein kann, gilt nichts anderes (siehe auch BVerwG, B.v. 3.8.2006 – 1 B 20/06 – juris: "Die rechtlichen Voraussetzungen, unter denen die Bestrafung wegen Staatsschutzdelikten als politische Verfolgung zu bewerten ist, [sind] in der Rechtsprechung grundsätzlich geklärt"). Gemessen an den oben dargestellten Grundsätzen müssen sich die Gerichte, wenn als Fluchtgrund ein Strafverfahren bzw. eine Verurteilung aufgrund einer – wie vorliegend – nicht bereits für sich gesehen diskriminierenden Strafvorschrift vorgetragen wird, auch insoweit mit dem Einzelfall auseinandersetzen, um festzustellen, ob in der Anwendung der Strafgesetze durch das Gericht des Herkunftsstaats eine Maßnahme politischer Verfolgung zu sehen ist. [...]

19 Schließlich kann vorliegend offen bleiben, ob die Einschätzung des Verwaltungsgerichts, dass die Klägerin durch das unter dem Vorwurf der "Präsidentenbeleidigung" gegen sie geführte türkische Strafverfahren eine individuelle Verfolgung wegen ihrer politischen, prokurdischen und regimekritischen Einstellung zu befürchten hat, zutreffend ist. Sollte die Beklagte mit ihrem Vortrag ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung geltend machen wollen, ist darauf hinzuweisen, dass diese nicht zu den Zulassungsgründen des § 78 Abs. 3 AsylG gehören. Allerdings dürfte im Hinblick auf die Ausführungen der Beklagten, dass in der Türkei allein im Jahr 2019 etwa 10.000 Verfahren aufgrund Art. 299 tStGB zu einer Verurteilung geführt hätten, wohingegen es in der siebenjährigen Amtszeit von Erdogans Vorgänger Abdullah Gül insgesamt nur 233 Verurteilungen gegeben habe, gemessen an den hier dargestellten Prüfungskriterien viel dafür sprechen, dass eine Bewertung der konkreten Umstände im Fall der Klägerin zum Ergebnis führt, dass ihr bei einer Rückkehr eine Verfolgung wegen ihrer politischen Überzeugung droht.

20 Da sich das angefochtene Urteil maßgeblich auf die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR, U.v. 19.10.2021 – Vedat orli /Türkei, Nr. 42048/19 – hudoc.echr.coe.int eng?i=001-212394 [in französischer Sprache] = juris Ls.) stützt, ist im vorliegend aufgezeigten Kontext abschließend auf Folgendes hinzuweisen: Der dortige Kläger hatte gerügt, dass sein Recht auf freie Meinungsäußerung verletzt sei. Demzufolge hatte der Gerichtshof ausschließlich zu prüfen, ob ein Strafverfahren nach Art. 299 tStGB mit der Meinungsfreiheit vereinbar ist, nicht aber wie hier, ob der Betroffene wegen eines asylerheblichen Merkmals eine härtere als die sonst übliche Behandlung erleidet. [...]