OVG Schleswig-Holstein

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Zitieren als:
OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 30.01.2023 - 1 LA 85/22 - asyl.net: M31379
https://www.asyl.net/rsdb/m31379
Leitsatz:

Maßgeblicher Zeitpunkt des erfolglosen Asylverfahrens im sicheren Drittstaat bei Zweitantrag:

Ein Asylantrag kann gemäß § 71a AsylG nur dann als unzulässiger Zweitantrag abgelehnt werden, wenn das Asylverfahren im sicheren Drittstaat bereits zum Zeitpunkt des Asylantrags in der BRD erfolglos abgeschlossen ist. Wird das Asylverfahren im Drittstaat erst nach Asylantragstellung in der BRD erfolglos abgeschlossen, kann der Antrag nicht als unzulässiger Zweitantrag abgelehnt werden.

(Leitsätze der Redaktion; anderer Ansicht: OVG Bremen, Urteil vom 03.11.2020 - 1 LB 28/20 - asyl.net: M29080; siehe zu Zweifeln an Vereinbarkeit des § 71a AsylG mit Unionsrecht: VGH Bayern, Beschluss vom 26.01.2023 - 6 AS 22.31155 (Asylmagazin 4/2023, S. 115 f.) - asyl.net: M31306)

Schlagwörter: Zweitantrag, Zulässigkeit, Beurteilungszeitpunkt, Abschluss des Asylverfahrens, Asylverfahrensrichtlinie, Asylfolgeantrag,
Normen: AsylG § 71a Abs. 1, RL 2013/32/EU Art. 33
Auszüge:

[...]

7 Nach § 71a Abs. 1 Satz 1 AsylG ist, wenn der Ausländer nach erfolglosem Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat im Sinne von § 26a AsylG, für den Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft über die Zuständigkeit für die Durchführung von Asylverfahren gelten oder mit dem die Bundesrepublik Deutschland darüber einen völkerrechtlichen Vertrag geschlossen hat, im Bundesgebiet einen Asylantrag (Zweitantrag) stellt, ein weiteres Asylverfahren nur durchzuführen, wenn die Bundesrepublik Deutschland für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist und die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 des Verwaltungsverfahrensgesetzes vorliegen. Danach ist bei der Beurteilung der Frage, ob ein in einem anderen Mitgliedstaat durchgeführtes Asylverfahren erfolglos abgeschlossen ist, auf den Zeitpunkt des Asylantrags in Deutschland abzustellen und nicht auf (irgend)einen späteren Zeitpunkt (offengelassen von BVerwG, Urteil vom 14.12.2016 – 1 C 4.16 –, juris, Rn. 40; zusammenfassend zum Streitstand Dickten, in: BeckOK Ausländerrecht, Stand Oktober 2022, AsylG § 71a Rn. 4).

8 Aus dem Wortlaut der Vorschrift ergibt sich, dass der erfolglose Abschluss des Asylverfahrens in dem sicheren Drittstaat zeitlich der Stellung eines Asylantrags in Deutschland vorgelagert sein muss, damit von einem Zweitantrag ausgegangen werden kann ("Stellt der Ausländer nach erfolglosem Abschluss des Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat […] im Bundesgebiet einen Asylantrag […]" <Hervorhebung nur hier>). Die Stellung des Klammerzusatzes "(Zweitantrag)" nach diesem Satzteil verdeutlicht, dass die Legaldefinition des Zweitantrags an dieser Stelle beendet ist und keine weiteren Elemente enthält [...].

9 Dass ein solches Verständnis des Wortlauts zumindest naheliegt, erkennen auch verschiedene Gerichte, die im Ergebnis die Gegenauffassung vertreten, an. So ist das Oberverwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen der Auffassung, dass für den Zeitpunkt der Asylantragstellung in Deutschland der Wortlaut des § 71a Abs. 1 AsylG spreche (vgl. OVG Bremen, Urteil vom 03.11.2020 – 1 LB 28/20 –, juris, Rn. 33). [...]

10 Es sind keine ausreichenden Anhaltspunkte ersichtlich, die eine über diesen Wortlaut hinausgehende Auslegung zulassen würden. Die Befugnis zur Korrektur des Wortlauts einer Vorschrift steht den Gerichten nur begrenzt zu. Jede Art der gesetzesimmanenten richterlichen Rechtsfortbildung setzt unabhängig von dem in Betracht kommenden methodischen Mittel (teleologische Extension oder Analogie) eine  Gesetzeslücke im Sinne einer planwidrigen Unvollständigkeit des Gesetzes voraus. Hat der Gesetzgeber eine eindeutige Entscheidung getroffen, dürfen die Gerichte diese nicht aufgrund eigener rechtspolitischer Vorstellungen verändern oder durch eine judikative Lösung ersetzen. [...]

11 Ausweislich der Begründung des Gesetzentwurfs dient § 71a AsylG "in Übereinstimmung mit Artikel 16a Abs. 5 GG – ebenso wie § 18 Abs. 4 und die §§ 22a und 29 Abs. 3 AsylG – der Umsetzung bilateraler und multinationaler völkerrechtlicher Verträge der Bundesrepublik Deutschland mit sicheren Drittstaaten" über die Zuständigkeit für die Durchführung von Asylverfahren. Im Gegensatz zu den anderen genannten Vorschriften wollte der Gesetzgeber mit § 71a AsylG den Fall regeln, "dass der Asylbewerber in einem anderen Vertragsstaat bereits ein Asylverfahren oder ein Verfahren zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft erfolglos durchgeführt hat" (BT-Drs. 12/4450, S. 27). Dieser gesetzgeberische Wille hat seinen Ausdruck im Wortlaut der Norm gefunden. [...]

12 Auch ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts der Sinn und Zweck von § 71a AsylG darauf beschränkt, den Zweitantrag dem Folgeantrag und damit die asylrechtliche Entscheidung des Drittstaats einer asylrechtlichen Entscheidung der Bundesrepublik Deutschland gleichzustellen [...]. Auch beim Folgeantrag geht der Gesetzgeber aber seit jeher davon aus, dass ein solcher (nur) dann vorliegt, wenn der Ausländer nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung eines früheren Asylantrags erneut einen Asylantrag stellt [...]. [...]