LSG Hamburg

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Zitieren als:
LSG Hamburg, Urteil vom 15.12.2022 - L 4 AS 350/21 - asyl.net: M31377
https://www.asyl.net/rsdb/m31377
Leitsatz:

Ausschluss von Sozialleistungen einer Unionsbürgerin bei Arbeitslosigkeit nach Ende des Mutterschutzes:

1. Wenn eine alleinerziehende Mutter, die Unionsbürgerin ist, nach dem Ende des Mutterschutzes nicht wenigstens eine geringfügige Beschäftigung ausübt, hat sie gemäß § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2b SGB II keinen Anspruch auf Sozialleistungen nach dem SGB II. Hiergegen bestehen keine unions- oder verfassungsrechtlichen Bedenken, insbesondere liegt keine mittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts vor.

2. Gemäß § 23 Abs. 3 S. 1 SGB XII sind Personen von Leistungen nach § 23 Abs. 1 SGB XII ausgeschlossen, wenn sich ihr Aufenthaltsrecht - wie hier - allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt. Die Voraussetzung für die Gewährung von Härtefallleistungen gemäß § 23 Abs. 3 S. 6 SGB XII liegen nicht vor, da die Antragsteller*innen darauf verwiesen werden können, die in Bulgarien verfügbare Grundsicherung in Anspruch zu nehmen.

(Leitsätze der Redaktion) 

Schlagwörter: EU-Staatsangehörige, Mutterschaft, Arbeitnehmereigenschaft, Wanderarbeitnehmer, Arbeitnehmerbegriff, SGB II, SGB XII, Leistungsausschluss, alleinerziehend, Bulgarien,
Normen: SGB II § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2b, FreizügG/EU § 2 Abs. 3, SGB XII § 23 Abs. 3 S. 1 Nr. 2, SGB XII § 23 Abs. 3 S. 1 Nr. 2, GG Art. 3 Abs. 3
Auszüge:

[...]

26 Nach § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II sind vom Leistungsbezug ausgenommen Ausländerinnen und Ausländer, [...] deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt (Nr. 2b) und ihre Familienangehörigen [...]. Die Klägerin zu 1. kann ein Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitssuche geltend machen gemäß § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2b SGB II. Ein anderes materielles Freizügigkeitsrecht besteht nicht.

27 Der Arbeitnehmerstatus der Klägerin zu 1. im aufenthaltsrechtlichen Sinne endete mit dem ... April 2020. Sie hat nur während dieser Zeit Leistungen für den Arbeitgeber erbracht. Dies lässt sich der von den Klägern selbst vorgelegten Bescheinigung vom ... April 2020 entnehmen, wonach der Klägerin zu 1. bescheinigt wurde, dass diese ab dem ... April 2020 wegen Mutterschaftsurlaubs nicht mehr bei der ... beschäftigt werde. [...]

28 Es besteht auch kein fortwirkendes Aufenthaltsrecht gemäß § 2 Abs. 3 S. 2 FreizügG/EU, wonach bei einer unfreiwilligen durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigten Arbeitslosigkeit nach weniger als einem Jahr Beschäftigung während der Dauer von sechs Monaten das Recht zum Aufenthalt als Arbeitnehmer unberührt bleibt. Diese Frist endete aufgrund der Beendigung der Arbeitstätigkeit zum 15. April 2020 am 15. Oktober 2020.

29 Unionsrechtlich begründete Bedenken bestehen gegen den Leistungsausschluss gemäß § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2b SGB II i.V.m. § 2 Abs. 3 FreizügG/EU nicht (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 9. August 2018, B 14 AS 32/17 R, Rn. 21). Einer individuellen Prüfung bedarf es angesichts der in Art. 7, 14 RL 2004/38/EG enthaltenen Typisierungen nicht. [...]

30 Verfassungsrechtlich begründete Bedenken, soweit sie auf eine mittelbare Diskriminierung wegen des Geschlechts gegenüber Leistungsberechtigten ohne oder mit älteren Kindern bzw. gegenüber Leistungsbeziehern, denen eine Berufstätigkeit in den ersten drei Lebensjahren von Kleinkindern nicht zugemutet werde, abstellen, hält der Senat nicht für begründet. Eine mittelbare Diskriminierung aufgrund einer Verneinung des Arbeitnehmerstatus im Falle einer schwangerschaftsbedingten Unterbrechung und mutterschaftsbedingt noch nicht erfolgten Wiederaufnahme der Tätigkeit liegt gerade nicht vor. Die Annahme eines Erhalts des aufenthaltsrechtlichen Arbeitnehmerstatus für die Dauer des Mutterschutzes und damit einer Ausnahme vom Leistungsausschluss für Ausländer berücksichtigt gerade die besondere Situation von jungen Müttern auch im Leistungsbezug. Dies kann jedoch nur dann gelten, wenn auch nach dem Ende des Mutterschutzes die vorherige oder eine andere Tätigkeit wiederaufgenommen wird. Auch die Annahme eines auch für die Dauer einer ggfs. genommenen Elternzeit und des Ruhens der Erwerbstätigkeit aus diesem Grunde angenommenen Erhalts des Arbeitnehmerstatus berücksichtigt diese Situation. Dies kann jedoch nur dann gelten, wenn eine entsprechende Vereinbarung getroffen wurde. Letztlich macht die Klägerin zu 1. geltend, dass sie Leistungen beziehen wolle, ohne zu diesem Zweck eine Beschäftigung fortsetzen oder suchen zu müssen – das aber widerstrebt dem legitimen Ziel des Gesetzgebers. Es ist auch nicht nachvollziehbar, dass eine Arbeitssuche wegen der Kinder unzumutbar erschwert sei. Dazu steht neben der Mutterschutzzeit auch die Übergangszeit des FreizügG/EU zur Verfügung.

31 Ein Anspruch folgt auch nicht aus § 23 SGB XII gegen die Beigeladene. Nach dem der Regelung des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2b SGB II gleichlautenden § 23 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 SGB II erhalten Ausländer und ihre
Familienangehörigen keine Leistungen nach § 23 Abs. 1 oder nach dem Vierten Kapitel des SGB XII, wenn sich ihr Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt. [...]

32 Nach § 23 Abs. 3 Satz 3 bis 5 SGB XII werden hilfebedürftigen Ausländern, die § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII unterfallen, bis zur Ausreise, längstens jedoch für einen Zeitraum von einem Monat, einmalig innerhalb von zwei Jahren nur eingeschränkte Hilfen gewährt, um den Zeitraum bis zur Ausreise zu überbrücken (Überbrückungsleistungen). Darum geht es den Klägern nicht. Soweit es im Einzelfall besondere Umstände erfordern, werden Leistungsberechtigten nach § 23 Abs. 3 Satz 3 gemäß § 23 Abs. 3 Satz 6 SGB XII zur Überwindung einer besonderen Härte andere Leistungen im Sinne von § 23 Abs. 1 SGB XII gewährt; ebenso sind Leistungen über einen Zeitraum von einem Monat hinaus zu erbringen, soweit dies im Einzelfall aufgrund besonderer Umstände zur Überwindung einer besonderen Härte und zur Deckung einer zeitlich befristeten Bedarfslage geboten ist. [...] Die Voraussetzungen für die Gewährung solcher Härtefallleistungen liegen indes nicht vor. Es ist nicht zu erkennen, dass es den Klägern - auch unter den Bedingungen der Pandemielage - unmöglich wäre, nach Bulgarien zurückzukehren und sie dort aufgrund individueller Einschränkungen durch Krankheit, Behinderung oder Pflegebedürftigkeit unzumutbaren Belastungen ausgesetzt wäre. Als Unionsbürger können die Antragsteller darauf verwiesen werden, die in ihrem Herkunftsland vorgesehene Grundsicherung in Anspruch zu nehmen. Auch sind keine ernsthaften Hindernisse ersichtlich, dass die Kläger Obdach in Bulgarien finden werden. [...]