VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Beschluss vom 20.02.2023 - 5 L 83/23 A - asyl.net: M31372
https://www.asyl.net/rsdb/m31372
Leitsatz:

Zur Handhabung von Übergangsfällen beim Nichtbetreiben des Asylverfahrens:

1. Der Umstand, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die Belehrung über die Möglichkeit, den Asylantrag nach angemessener inhaltlicher Prüfung abzulehnen, und über die Nachweisfrist des § 33 Abs. 2 Satz 2 AsylG unterlassen hat, führt nicht zur Rechtswidrigkeit des durch das BAMF ergangenen Bescheids, wenn die Rücknahmefiktion des § 33 Abs. 1 AsylG in der bis zum 31.12.2022 geltenden Fassung bereits eingetreten war.

2. In diesen Übergangsfällen beruht ein nach dem 01.01.2023 ergangener Einstellungsbescheid auf § 32 AsylG und nicht auf § 33 Abs. 1 Satz 1 Var. 1 AsylG (n.F.).

3. Den rechtsstaatlichen Anforderungen an ein faires Verfahren ist Genüge getan, wenn aufgrund der fehlenden Belehrung über die Möglichkeit, die Vermutung des Nichtbetreibens des Verfahrens zu widerlegen, die Präklusionsfrist des § 33 Abs. 2 Satz 2 AsylG nicht in Gang gesetzt wird.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Asylverfahren, Nichtbetreiben des Verfahrens, Einstellung, Wiederaufnahme des Verfahrens, Altfälle, Übergangsregelung,
Normen: AsylG § 33 Abs. 1, AsylG § 32, AsylG § 33 Abs. 1 Satz 1 Var. 1(n.F.), AsylG § 33 Abs. 1 Satz 1 Var. 2 (n.F.), AsylG § 33 Abs. 2 Satz 2 (n.F.)
Auszüge:

[...]

9 Zwar ist diese Belehrung auf den ersten Blick wegen der seit dem 1. Januar 2023 geltenden Regelung des § 33 Abs. 1, Abs. 2 AsylG in der Fassung des Gesetzes zur Beschleunigung der Asylgerichtsverfahren und Asylverfahren (BGBl. I 2022 Seite 2817) zum Zeitpunkt des Erlasses des mit der Hauptsache angegriffenen Bescheides und zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG) nicht mehr in vollem Umfang vollständig beziehungsweise inhaltlich zutreffend. Seit dem 1. Januar 2023 sieht § 33 Abs. 1 AsylG eine Rücknahmefiktion nicht mehr vor, sondern eröffnet dem Bundesamt im Fall des Nichtbetreibens des Asylverfahrens die Wahl, das Verfahren einzustellen oder den Asylantrag nach angemessener inhaltlicher Prüfung abzulehnen. Die unverändert gebliebene Vermutung des § 33 Abs. 2 Satz 1 AsylG gilt gemäß § 33 Abs. 2 Satz 2 AsylG nicht, wenn der Ausländer innerhalb eines Monats nach Zustellung der Entscheidung nach § 33 Abs. 1 AsylG nachweist, dass das in § 33 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AsylG genannte Versäumnis oder die in § 33 Abs. 2 Satz 1 Nrn. 2 und 3 genannte Handlung auf Umstände zurückzuführen war, auf die er keinen Einfluss hatte. Das Bundesamt hat den Antragsteller (naturgemäß) weder über die Möglichkeit des Bundesamtes, den Asylantrag nach angemessener inhaltlicher Prüfung abzulehnen, noch über die Nachweisfrist des § 33 Abs. 2 Satz 2 AsylG belehrt.

10 Dies führt indes nicht zur Rechtswidrigkeit des mit der Hauptsache angefochtenen Bescheides. Bei Lichte betrachtet ist die Belehrung nicht unrichtig (geworden). Zwar enthält das Gesetz zur Beschleunigung der Asylgerichtsverfahren und Asylverfahren keine Übergangsregelung, so dass gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG grundsätzlich die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung gilt. Die maßgebliche Sach- und Rechtslage stellt sich zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung indes wie folgt dar: Der Asylantrag des Antragstellers gilt gemäß § 33 Abs. 1 AsylG a.F. als zurückgenommen. Das Nichterscheinen des Antragstellers zum Anhörungstermin am 28. November 2022 ist intertemporal nach den zu dieser Zeit geltenden Regelungen des Asylgesetzes zu beurteilen. Gemäß § 33 Abs. 1 AsylG a.F. galt der Asylantrag des Antragstellers als zurückgenommen, wenn die Vermutung des § 33 Abs. 2 Satz 1 AsylG nicht gemäß § 33 Abs. 2 Satz 2 AsylG a.F. durch unverzüglichen Nachweis widerlegt wurde. Nach Ablauf dieser Nachweisfrist, die in Anlehnung an die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 10 Abs. 1 Halbs. 2 AsylG (BVerwG, Urteil vom 14. Dezember 2021 – 1 C 40.20 –, juris Rn. 12) zwei Wochen beträgt, und Eintritt der Fiktionswirkung des § 33 Abs. 1 AsylG a.F. war das Asylverfahren ipso iure beendet (vgl. BVerwG, Urteil vom 15. April 2019 – 1 C 46.18 –, juris Rn. 28 m. w. Nachw.). Vorliegend endete das Asylverfahren mithin jedenfalls mit Ablauf des 12. Dezember 2022. [...] Die Gesetzesänderung mit Wirkung vom 1. Januar 2023 führte nicht zur Beseitigung der Rücknahmefiktion (vgl. auch VG Sigmaringen, Urteil vom 10. Februar 2023 – A 5 K 109/23 –, juris Rn. 23 ff.). [...]

11 [...] § 33 Abs. 5 Satz 1 AsylG ist vor diesem Hintergrund so zu verstehen, dass ein Ausländer, dessen Asylverfahren wegen des Nichtbetreibens des Verfahrens eingestellt worden ist, die Wiederaufnahme des Verfahrens beantragen kann. Dieses Verständnis ist zum einen mit dem Wortlaut des § 33 Abs. 5 Satz 1 AsylG, der – anders als etwa § 33 Abs. 2 Satz 2 AsylG – nicht auf die "Entscheidung nach Absatz 1" abhebt, (noch) zu vereinbaren. Zum anderen erfasst die so verstandene Vorschrift auch diejenigen Übergangsfälle, in denen Asylverfahren vor dem 1. Januar 2023 gemäß § 33 Abs. 5 Satz 1 AsylG a.F. eingestellt worden sind und der Antrag auf Wiederaufnahme zwar innerhalb der Neunmonatsfrist des § 33 Abs. 5 Satz 5 Nr. 1 AsylG, aber erst im Jahr 2023 gestellt wird.

12 [...] Den rechtsstaatlichen Anforderungen an ein faires Verfahren ist vielmehr Genüge getan, wenn die fehlende Belehrung über die Möglichkeit, die Vermutung binnen eines Monats zu widerlegen, die Ingangsetzung der Präklusionsfrist des § 33 Abs. 2 Satz 2 AsylG hindert (vgl. allgemein zum verfassungsrechtlichen Hintergrund von [Rechtsbehelfs-] Belehrungen der Verwaltung sowie zu materiellen Präklusionsregelungen Schmidt-Aßmann in Dürig/Herzog/Scholz, GG, August 2020, Art. 19 Rn. 257a, 260 f. m. w. Nachw.). [...]