VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 05.01.2023 - 39 K 320.19 A (Asylmagazin 5/2023, S. 173 f.) - asyl.net: M31371
https://www.asyl.net/rsdb/m31371
Leitsatz:

Aufhebung eines Dublin-Bescheids wegen Ermessensfehlern hinsichtlich des Kindeswohls:

1. Sowohl die Belange des Privat- und Familienlebens gemäß Art. 7 GR-Charta als auch die Belange des Kindeswohls gemäß Art. 24 Abs. 1 GR-Charta sind bei der Entscheidung, ob das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [BAMF] gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-VO vom Selbsteintrittsrecht Gebrauch macht, zu berücksichtigen. Andernfalls ist der Bescheid ermessensfehlerhaft und damit rechtswidrig.  

2. Hinsichtlich des Kindeswohls sind u.A. die psychischen und sozialen Auswirkungen des fluchtlauslösenden Geschehens im Herkunftsland sowie die Verbindungen zu hier lebenden Familienangehörigen (hier: Großeltern) zu berücksichtigen. Ferner ist zu berücksichtigen, welche Folgen eine erneute Entwurzelung hätte, wenn die Kinder bereits beachtliche Integrationsleistungen erbracht haben.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Dublinverfahren, Polen, besonders schutzbedürftig, Kinder, familiäre Beistandsgemeinschaft, Selbsteintritt, Tschetschenien, Entwurzelung, Schutz von Ehe und Familie, Großeltern, Kindeswohl,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, VO 604/2013 Art. 17 Abs. 1, GR-Charta Art. 7, GR-Charta Art. 24 Abs. 1, VO 604/2013 Art. 6 Abs. 1
Auszüge:

[...]

b) Die Unzulässigkeitsentscheidung erweist sich jedoch deshalb als rechtswidrig, weil die Entscheidung der Beklagten, nicht von ihrem Selbsteintrittsrecht nach Art. 17 Abs. 1 Uabs. 1 Dublin III-VO Gebrauch zu machen, ermessensfehlerhaft und damit rechtswidrig ist. [...]

Die Entscheidung der Beklagten ist ermessensfehlerhaft. Sie hat den schwerwiegenden Grundrechtsbezug ihrer Entscheidung im Hinblick auf die Besonderheiten des vorliegenden Einzelfalls verkannt. Sowohl die Belange des Privat- und Familienlebens als auch die Belange des Kindeswohls, die in Art. 7 bzw. Art. 24 Abs. 1 der EU-GRCharta verbürgt sind, sind von der Beklagten bei ihrer Entscheidung nicht bzw. nicht zutreffend berücksichtigt worden. Die Beklagte hat nicht ausreichend berücksichtigt, dass die Klägerinnen gemeinsam mit den Großeltern aus ihrem Heimatland geflohen sind, nachdem tschetschenische Sicherheitskräfte den Ehemann bzw. Vater der Klägerinnen entführt und ermordet und jedenfalls die Klägerin zu 1 und ihre Schwiegermutter in der Folge bedroht und unter Druck gesetzt hatten. [...] Die Auswirkungen dieses Geschehens auf die Klägerin zu 2 und ihr Verhältnis zu ihren in Deutschland lebenden und als Flüchtlinge anerkannten Großeltern hat die Beklagte in ihrer Entscheidung vernachlässigt. Vor dem Hintergrund der frühkindlichen Erfahrungen der Klägerin zu 2, namentlich des traumatischen Verlustes des Vaters, gefolgt von den Repressionen gegen die Familie, der Zurücklassung des gesamten Lebensumfeldes mit Ausnahme der mitgeflohenen Familienangehörigen des Vaters und der hier in Deutschland dann - durch Atteste belegte - über einen längeren Zeitraum andauernden schweren psychischen Erkrankungen der Klägerin zu 1, erscheint sowohl die durch die Großeltern und die Klägerin zu 1 in der mündlichen Verhandlung geschilderte, außergewöhnlich enge Verbundenheit zu den durchgehend betreuenden Großeltern als auch die ebenfalls glaubhaft geschilderte Ängstlichkeit und nur allmählich erreichte Stabilisierung durch die Gewährleistung eines gefestigten Lebensumfelds plausibel. Dabei ist zusätzlich zu berücksichtigen, dass die Klägerin zu 2 zum Zeitpunkt der Ereignisse im Heimatland in einem Alter war, in dem sie die Vorgänge, insbesondere den traumatischen Verlust ihres Vaters, bereits bewusst wahrnehmen konnte. [...]

Ermessensfehlerhaft verweist das Bundesamt weiter darauf dass die Bindungen der Klägerin zu 2 zu ihren Großeltern im Rahmen der Dublin III-VO nicht zu berücksichtigen seien, weil es sich bei den Großeltern nicht um Mitglieder der Kernfamilie handele. Damit hat sie die einzubeziehenden Belange und die rechtlichen Grundlagen ihres Ermessens verkannt. Denn nach dem 17. Erwägungsgrund der Dublin III-VO sollten die Mitgliedstaaten insbesondere aus humanitären Gründen oder in Härtefällen von den Zuständigkeitskriterien abweichen können, um Familienangehörige, Verwandte - wozu nach Art. 2 lit. g) Dublin III-VO auch Großeltern und Enkel gehören - oder Personen jeder anderen verwandtschaftlichen Beziehung zusammenzuführen und einen Asylantrag prüfen, auch wenn sie hierfür nach den in der Verordnung festgelegten Zuständigkeitskriterien nicht zuständig sind. Vorliegend geht die Beziehung zwischen der Klägerin zu 2 und ihrer Großmutter zudem deutlich über das übliche Verhältnis zwischen Großeltern und Enkeln hinaus. Die glaubhaft geschilderte enge emotionale Verbundenheit, der tägliche Kontakt und die regelmäßige Betreuung lassen in diesem besonderen Fall auf eine intensive familiäre Beziehung schließen, die hier nicht nur ergänzend neben der Beziehung zu dem Vater, sondern nach dessen Tod gleichsam an deren Stelle getreten ist. Angesichts dessen und der Vorgeschichte liegt es auf der Hand, dass eine Trennung von den Großeltern in Verbindung mit einer erneuten Entwurzelung, einem erzwungener Neuanfang in einem Land mit einer fremden Sprache, nachdem sie hier nach den glaubhaften Angaben in der mündlichen Verhandlung beachtliche Integrationsleistungen erbracht hat, eine Gefährdung des Kindeswohls nahelegen. Aber auch hierzu hat die Beklagte keinerlei Erwägungen angestellt, obwohl nach Art. 6 Abs. 1 Dublin III-VO das Kindeswohl in allen Verfahren der Verordnung eine vorrangige Erwägung der Mitgliedstaaten ist, so dass insoweit ebenfalls von einem Ermessensausfall mit der Folge der Rechtswidrigkeit der Unzulässigkeitsentscheidung auszugehen ist. [...]

Die Ermessensfehler schlagen auch auf die Entscheidung der Beklagten im Hinblick auf die übrigen Klägerinnen durch. Zwar dürften die obigen Ausführungen nicht ohne weiteres auf die Situation der Klägerin zu 3 übertragbar sein, da diese zum Zeitpunkt der Flucht aus dem Heimatland in einem Alter war, in dem sie zumindest diese Ereignisse nicht bewusst wahrgenommen haben dürfte. Da jedoch eine Ermessensentscheidung aufgrund des Umstands, dass die Klägerinnen eine Kernfamilie bilden, nur einheitlich getroffen werden kann, weil es durch eine Trennung zu einer gravierenden Verletzung des in Art. 8 Abs. 1 EMRK, Art. 7 EU-GRCharta garantierten Rechtes auf Achtung des Familienlebens käme, die unverhältnismäßig und damit rechtswidrig wäre, ist die angegriffene Entscheidung auch im Hinblick auf die Klägerin zu 3 ermessensfehlerhaft und damit rechtswidrig. [...]