VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 16.01.2023 - A 2 S 363/22 - asyl.net: M31364
https://www.asyl.net/rsdb/m31364
Leitsatz:

Gerichtliche Hinweise in der mündlichen Verhandlung sind in das Sitzungsprotokoll aufzunehmen:

"1. Gemäß § 105 VwGO iVm § 160 Abs. 2 ZPO sind die wesentlichen Verhandlungsvorgänge in das Protokoll aufzunehmen. Was wesentlich ist, hängt maßgeblich vom Verhandlungsgegenstand und vom Verhandlungsverlauf ab. In das Protokoll ist alles aufzunehmen, was das Rechtsmittelgericht für die Entscheidungs- und Verfahrenskontrolle benötigt. Dazu zählen u.a. Prozessanträge wie etwa ein Antrag auf Gewährung einer Schriftsatzfrist oder prozessleitende Verfügungen bzw. Beschlüsse des Gerichts, mit denen beispielsweise eine Schriftsatzfrist gewährt oder abgelehnt wurde. Gleiches gilt, wenn ein Gericht für den Fall einer Änderung seiner vorläufigen Rechtsauffassung ein weiteres Schriftsatzrecht zusichert und damit sozusagen ein "bedingtes" Schriftsatzrecht gewährt.

2. Gerichtliche Hinweise - hier zur vorläufigen Rechtsauffassung des Gerichts -, die in der mündlichen Verhandlung erteilt werden, sind in der Regel als wesentliche Vorgänge im Sinne des § 160 Abs. 2 ZPO in das Sitzungsprotokoll aufzunehmen. Schweigt das Protokoll hierzu, so ist im Hinblick auf § 173 VwGO i.V.m. § 415 ZPO davon auszugehen, dass der Hinweis nicht erfolgt ist."

(Amtliche Leitsätze; so auch: OVG Sachsen, Beschluss vom 14.01.2020 - 1 A 222/20.A - asyl.net: M30005)

Schlagwörter: rechtliches Gehör, Berufungszulassung, mündliche Verhandlung, Protokoll, Sitzungsniederschrift, rechtlicher Hinweis, Überraschungsentscheidung, Schriftsatzfrist, bedingte Schriftsatzfrist, negative Beweiskraft, Beweiskraft, Freibeweis
Normen: VwGO § 105, ZPO § 160 Abs. 2, ZPO § 160 Abs. 4, VwGO § 173, ZPO § 415, GG Art. 103 Abs. 1, AsylG § 78 Abs. 3 Nr. 3
Auszüge:

[...]

Die Antragsschrift sieht eine Überraschungsentscheidung darin, dass das Verwaltungsgericht die vorgelegten Atteste nicht für ausreichend erachtet und dem Kläger kein Abschiebungsverbot zuerkannt hat. Die Prozessbevollmächtigte des Klägers trägt in diesem Zusammenhang vor, die Richterin habe ihr in der mündlichen Verhandlung mitgeteilt, "dass sie für den Fall, dass ergänzende Atteste oder ergänzender Vortrag erforderlich sei, einen Schriftsatznachlass gewähre". Dies könne durch eine Vernehmung des in der mündlichen Verhandlung anwesenden Dolmetschers und die von der Prozessbevollmächtigten vorgelegte entsprechende eidesstattliche Versicherung nachgewiesen werden. Mit der dargestellten Aussage sei ein Vertrauenstatbestand geschaffen worden. Durch die Entscheidung der Richterin noch am Tag der mündlichen Verhandlung ohne Einräumung des zuvor angekündigten Schriftsatznachlasses habe das Gericht eine Überraschungsentscheidung getroffen.

Eine Überraschungsentscheidung folgt hieraus nicht, da sich weder die behauptete Verfahrensweise des Gerichts hinsichtlich der Gewährung eines Schriftsatzrechts (a)) noch der in diesem Zusammenhang angeblich erteilte rechtliche Hinweis zur Erfolgsaussicht der Klage dem Sitzungsprotokoll der mündlichen Verhandlung entnehmen lässt (b)).

a) Gemäß § 105 VwGO iVm § 160 Abs. 2 ZPO sind die wesentlichen Verhandlungsvorgänge in das Protokoll aufzunehmen. Was in diesem Sinne "wesentlich" ist, folgt aus der Funktion des Protokolls und aus den in § 160 Abs. 3 ZPO aufgezählten (notwendigen) Protokollinhalten, die die Generalklausel des § 160 Abs. 2 ZPO konkretisieren und Auslegungshilfen bieten. Im Übrigen ist der "Wesentlichkeitsbegriff" des § 160 Abs. 2 ZPO nicht abstrakt festgelegt. Was wesentlich ist, hängt auch vom Verhandlungsgegenstand und vom Verhandlungsverlauf ab. In das Protokoll ist alles aufzunehmen, was das Rechtsmittelgericht für die Entscheidungs- und Verfahrenskontrolle benötigt [...]. Danach zählen zu den wesentlichen Vorgängen der Verhandlung unter anderem Prozessanträge wie ein Beweisantrag [...], ein Antrag auf Gewährung einer Schriftsatzfrist nach § 173 Satz 1 VwGO iVm § 283 ZPO [...] oder ein Vertagungsantrag [...] sowie entsprechende prozessleitende Verfügungen wie eine vom Gericht gesetzte Erklärungs- bzw. Nachreichungsfrist [...] oder eine gewährte Schriftsatzfrist [...]. Sind Prozessanträge der Beteiligten nicht protokolliert, so begründet das Protokoll den vollen Beweis dafür, dass sie nicht gestellt wurden [...]. Entsprechendes gilt für prozessleitente Verfügungen bzw. Beschlüsse des Gerichts, mit denen etwa eine Schriftsatzfrist gewährt oder abgelehnt wurde [...].

Die dargestellten Grundsätze gelten gleichermaßen, wenn das Gericht - wie hier behauptet - einen Antrag auf Gewährung einer Schriftsatzfrist im Hinblick auf eine in Aussicht gestellte Stattgabe der Klage ablehnt und gleichzeitig für den Fall einer Änderung der vorläufigen Rechtsauffassung ein weiteres Schriftsatzrecht zusichert und damit sozusagen ein "bedingtes" Schriftsatzrecht gewährt. Auch hierbei handelt es sich um einen zu protokollierenden wesentlichen Vorgang der Verhandlung im Sinne des § 160 Abs. 2 ZPO, weil er vom Rechtsmittelgericht benötigt wird, um den Verfahrenshergang zu überprüfen.

Schweigt das Protokoll - wie hier - zu den vom Kläger behaupteten wesentlichen Vorgängen der Verhandlung, liefert es den Beweis dafür, dass ein Antrag auf Gewährung eines Schriftsatzrechts nicht gestellt und darüber hinaus vom Gericht auch keine Schriftsatzfrist für den Fall einer Änderung seiner vorläufigen Rechtsauffassung gewährt wurde. Danach können die für die Beurteilung der geltend gemachten Gehörsrüge erforderlichen Feststellungen gerade nicht im Wege eines Freibeweises getroffen werden, so dass weder die Einholung einer dienstlichen Stellungnahme der Einzelrichterin noch einer Aussage des in der mündlichen Verhandlung anwesenden Dolmetschers zu dieser Frage in Betracht kommt. Die Regelung in § 160 Abs. 2 ZPO über die Protokollierung aller entscheidungs- und ergebniserheblichen Vorgänge soll es der Rechtsmittelinstanz ermöglichen, im Einzelfall die Ordnungsmäßigkeit des Verfahrens anhand des Sitzungsprotokolls effektiv zu kontrollieren, anstatt auf den "unsicheren" Freibeweis zurückgreifen zu müssen, zumal dieser Weg einen nicht unerheblichen Zeitraum beansprucht.

b) Soweit die Antragsschrift darüber hinaus bei lebensnaher Auslegung sinngemäß vorträgt, die Richterin habe im Zusammenhang mit der Zusicherung eines "bedingten" Schriftsatzrechts die vorläufige Rechtsauffassung geäußert, der Kläger habe auf Grundlage der von ihm vorgelegten Atteste Anspruch auf Zuerkennung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, lässt sich dem Sitzungsprotokoll ein entsprechender rechtlicher Hinweis ebenfalls nicht entnehmen.

Gerichtliche Hinweise, die in der mündlichen Verhandlung erteilt werden, sind in der Regel als wesentliche Vorgänge der Verhandlung im Sinne von § 160 Abs. 2 ZPO in das Verhandlungsprotokoll aufzunehmen [...]. Der vorliegende Fall zeigt, dass die Erteilung von rechtlichen Hinweisen in der mündlichen Verhandlung, damit im Zusammenhang stehende Prozessanträge der Beteiligten und die entsprechenden prozessleitenden Beschlüsse des Gerichts hinsichtlich der Protokollierung nach § 160 Abs. 2 ZPO einheitlich zu betrachten sind; es wäre sinnwidrig, wenn sich die Vorschrift nur auf Prozessanträge und prozessleitende Verfügungen beziehen würde, hinsichtlich vorangegangener rechtlicher Hinweise des Gerichts die Beurteilung eines Verfahrensverstoßes aber im Wege eines Freibeweises erfolgen könnte.

Davon ausgehend ist im streitgegenständlichen Verfahren auf Zulassung der Berufung davon auszugehen, dass die Einzelrichterin in der mündlichen Verhandlung keine rechtlichen Hinweise zu ihrer vorläufigen Rechtsauffassung erteilt hat. [...]