VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 13.02.2023 - 11 S 198/23 (Asylmagazin 5/2023, S. 176) - asyl.net: M31362
https://www.asyl.net/rsdb/m31362
Leitsatz:

Unverhältnismäßigkeit der Durchsuchung bei Dritten zum Zweck der Abschiebung:

1. Für die Durchsuchung der Wohnung einer anderen Person zum Zweck der Ergreifung und Abschiebung einer ausreisepflichtigen Person müssen hinreichende Tatsachen vorliegen, die darauf schließen lassen, dass sich die abzuschiebende Person im Zeitpunkt der beabsichtigten Durchsuchung der Wohnung dort aufhält.

2. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Durchsuchung bei einem Dritten, der durch sein Verhalten in keiner Weise Anlass zu den beabsichtigten Maßnahmen gegeben hat, über die allgemeinen Erwägungen hinaus erhöhte Anforderungen an die Prüfung der Verhältnismäßigkeit stellt.

3. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass eine Wohnungsdurchsuchung für Kinder das Risiko einer besonderen psychischen Belastung und einen schweren Grundrechtseingriff darstellt.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Wohnungsdurchsuchung, Abschiebung, vollziehbar ausreisepflichtig, Kindeswohl, Ausreisepflicht, Rechtsweg, Zuständigkeit, Durchsuchungsbeschluss, Verwaltungsgericht,
Normen: AufenthG § 58 Abs. 6 Satz 1, AufenthG § 58 Abs. 6 Satz 2,
Auszüge:

[...]

2. Unter Zugrundelegung dessen setzt der Erlass einer die Wohnung der Antragsgegnerin betreffenden Durchsuchungsanordnung voraus, dass diese Durchsuchung zur Ergreifung des abzuschiebenden Ausländers erfolgt und zum Zweck der Durchführung der Abschiebung erforderlich ist (§ 58 Abs. 6 Satz 1 AufenthG) sowie dass Tatsachen vorliegen, aus denen zu schließen ist, dass der Ausländer sich in den zu durchsuchenden Räumen befindet (§ 58 Abs. 6 Satz 2 AufenthG). [...]

Der vom Antragsteller gezogene Schluss, die vorgesehene Durchsuchung der Wohnung der Antragsgegnerin sei in Bezug auf die mit ihr beabsichtigte Ergreifung des abzuschiebenden Ausländers erfolgversprechend, beruht allein auf den im bereits oben angeführten Beschluss des Amtsgerichts Karlsruhe wiedergegebenen Angaben des Ausländers im Rahmen seiner am 20.11.2022 erfolgten Anhörung, er wohne bei der Antragsgegnerin bzw. in der Wohnung der Antragsgegnerin, die er als seine Freundin bezeichnete. [...]

Damit sind auf der Basis des aktuellen Stands der behördlichen Ermittlungen bereits die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Durchsuchung nach § 58 Abs. 6 Satz 2 AufenthG nicht erfüllt. Denn die bisherigen Ermittlungen ergeben keine hinreichenden Tatsachen, dass sich der abzuschiebende Ausländer im Zeitpunkt der beabsichtigten Durchsuchung in der Wohnung der Antragsgegnerin befinden wird.

Hinzu kommt Folgendes: Selbst wenn man die ermittelten Tatsachen als im Sinne des Tatbestands von § 58 Abs. 6 Satz 2 AufenthG hinreichend einstufen wollte, wäre eine Durchsuchung der Wohnung der Antragsgegnerin vor dem Hintergrund der oben aufgezeigten Überlegungen unverhältnismäßig. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Durchsuchung bei einem Dritten, der durch sein Verhalten in keiner Weise Anlass zu den beabsichtigten Maßnahmen gegeben hat, über die allgemeinen Erwägungen hinaus erhöhte Anforderungen an die Prüfung der Verhältnismäßigkeit stellt (vgl. zu strafrechtlichen Ermittlungsmaßnahmen BVerfG, Beschluss vom 03.07.2006 - 2 BvR 299/06 - juris). Nachdem hier die zu durchsuchende Wohnung nicht nur von der Antragsgegnerin, sondern auch von deren erst achtjährigem Sohn bewohnt wird und für diesen angesichts seines geringen Alters das Risiko einer durch die vorgesehene Wohnungsdurchsuchung eintretenden besonderen psychischen Belastung nicht auszuschließen ist, steht die Anordnung der Maßnahme mit Blick auf die nach Aktenlage nur geringe Auffindewahrscheinlichkeit außer Verhältnis zur Schwere des damit verbundenen Grundrechtseingriffs. [...]