VG Bremen

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Zitieren als:
VG Bremen, Urteil vom 06.01.2023 - 2 K 137/21 - asyl.net: M31352
https://www.asyl.net/rsdb/m31352
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für Anhänger*innen der Gülen-Bewegung aus der Türkei:

1. Die insbesondere seit dem Putschversuch 2016 eingeleitete systematische Verfolgung mutmaßlicher Anhänger*innen der Gülen-Bewegung durch den türkischen Staat dauert an. 

2. Türkische Behörden beschuldigen Personen nicht nur des Terrorismus, wenn diese tatsächlich aktives Mitglied der Gülen-Bewegung sind, sondern z.B auch, wenn sie persönliche Beziehungen zu Mitgliedern der Bewegung unterhalten, eine von der Bewegung betriebene Schule besucht haben oder im Besitz von Schriften Gülens sind. Das Auswärtige Amt benennt Kriterien, bei deren Vorliegen strafrechtliche Verfolgung droht.

3. Der Kläger hat in der Türkei bereits Verfolgung in Form eines unfairen und nicht rechtsstaatlichen Strafverfahrens erlitten. Hinsichtlich der Klägerin ist zu berücksichtigen, dass staatliche Behörden auch mit Entlassungen und Verhaftungen gegen Familienangehörige von Gülen-Mitgliedern vorgehen.  

(Leitsätze der Redaktion; siehe auch: VG Potsdam, Urteil vom 27.01.2022 - 1 K 2418/19.A - asyl.net: M30882)

Schlagwörter: Türkei, politische Verfolgung, Gülen, Gülen-Bewegung, unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung, Strafverfahren
Normen: AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3a Abs. 1, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 2, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 5
Auszüge:

[...]

Ausgehend von diesen Grundsätzen führt das Begehren der Kläger zum Erfolg. Sie werden von den türkischen Behörden der Gülen-Bewegung zugeordnet und unterliegen aus diesem Grunde mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung gemäß § 3 Abs. 1 AsylG. [...]

Seit Ende 2013 hat die türkische Regierung in mehreren Wellen Tausende mutmaßliche Anhänger der Gülen-Bewegung in diversen staatlichen Institutionen suspendiert, versetzt, entlassen oder angeklagt. Noch in der Nacht des Putschversuches vom 15./16.7.2016 machte die türkische Regierung die Gülen-Bewegung für den Putsch verantwortlich. Die Bewegung wurde als terroristische Organisation eingestuft. Nach dem Putschversuch hat die Regierung sog. "Säuberungsmaßnahmen" gegen Individuen und Institutionen eingeleitet, die sie der Gülen-Bewegung zurechnet. Die Maßnahmen zielen erklärtermaßen darauf ab, die Anhänger der Gülen-Bewegung aus allen relevanten Institutionen in der Türkei zu entfernen. Bei diesen "Säuberungen" wird nicht zwischen Personen unterschieden, denen lediglich eine Nähe zur Gülen-Bewegung vorgeworfen wird und jenen Personen, die einer aktiven Beteiligung am Putschversuch verdächtigt werden. [...]

Nach aktuellen Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes dauert die systematische Verfolgung mutmaßlicher Anhänger der Gülen-Bewegung an (Lagebericht, Stand Juni 2022).

Türkische Behörden ordnen Personen nicht nur dann als Terroristen ein, wenn diese tatsächlich aktives Mitglied der Gülen-Bewegung sind, sondern auch dann, wenn diese z.B. lediglich persönliche Beziehungen zu Mitgliedern der Bewegung unterhalten, eine von der Bewegung betriebene Schule besucht haben oder im Besitz von Schriften Gülens sind. Das Auswärtige Amt nennt folgende Kriterien, um eine strafrechtliche Verfolgung als mutmaßlicher "Gülenist" einzuleiten:

- Nutzen der verschlüsselten Kommunikations-App ByLock;

- Geldeinlage bei der Bank Asya nach dem 25.12.2013;

- Abonnement bei der Nachrichtenagentur Cihan oder der Zeitung Zaman;

- Spenden an den Gülen-strukturen zugeordneten Wohltätigkeitsorganisationen;

- Besuch Gülen zugeordneter Schulen durch Kinder;

- Kontakte zu Gülen zugeordneten Gruppen/Organisationen/Firmen (inklusive abhängig Beschäftigte);

- Teilnahme an religiösen Versammlungen der Gülen-Bewegung.

Eine Verurteilung setze in der Regel das Zusammentreffen mehrerer dieser Indizien voraus.

Nach den vorgelegten Unterlagen steht zur Überzeugung der Einzelrichterin fest, dass der Kläger zu 2) in der Türkei wegen des Vorwurfs der Mitgliedschaft in der terroristischen Vereinigung FETÖ/PDY erstinstanzlich zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt wurde und dass ein Haftbefehl gegen ihn vorliegt. Die in den zahlreichen Unterlagen aus dem Strafverfahren genannten Haftdaten entsprechen exakt den Angaben der Kläger bei ihrer Anhörung beim Bundesamt. Vor diesem Hintergrund und wegen der Fülle der vorgelegten Unterlagen aus dem Strafverfahren gegen den Kläger zu 2) ist es nicht nachzuvollziehen, dass die Beklagte die vorgelegten Urkundenbeweise als nicht beachtlich betrachtet.

Es ist auch nicht ersichtlich, dass es sich bei den Verfolgungsmaßnahmen um eine nicht asylrelevante Reaktion des türkischen Staates auf terroristische Aktivitäten des Klägers zu 2) handelt. Vielmehr ist nach den Angaben der Kläger bei ihrer Anhörung und nach den vorliegenden Erkenntnismitteln davon auszugehen, dass die Verurteilung auf einem unfairen und nicht rechtsstaatlichen Gerichtsverfahren beruht und dass in der Haft die Gefahr von Misshandlungen besteht. [...]

Die Gefahr einer Verfolgung wegen der Zuordnung zur Gülen-Bewegung betrifft mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit auch die Klägerin zu 1). Durch die vorgelegten Unterlagen ist nachgewiesen, dass auch sie von den türkischen Behörden in Verbindung mit der Gülen-Bewegung gebracht und aus diesem Grunde entlassen wurde. Hinzu kommt eine Gefährdung als Ehefrau des Klägers zu 2). [...]