VG Düsseldorf

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Zitieren als:
VG Düsseldorf, Urteil vom 23.02.2023 - 8 K 3701/22.A (Asylmagazin 4/2023, S. 107 f.) - asyl.net: M31349
https://www.asyl.net/rsdb/m31349
Leitsatz:

Aufhebung eines Dublin-Bescheids wegen systemischer Mängel in Italien:

1. Es spricht gerade unter der neuen italienischen Regierung Hinreichendes dafür, dass sich die Aufnahmebedingungen in Italien maßgeblich verschlechtert haben und mit systemischen Mängeln behaftet sind.

2. Unabhängig davon und selbständig tragend steht im Zeitpunkt der Entscheidung nicht fest, dass die Abschiebung nach Italien innerhalb der nunmehr (gemeint ist mit Zustellung des Urteils) beginnenden sechsmonatigen Überstellungsfrist durchgeführt werden kann. Das italienische Innenministerium hat die Dublin-Einheiten der Mitgliedstaaten der Europäischen Union mit Schreiben vom 5. und 7. Dezember 2022 gebeten, ab dem 6. Dezember 2022 Überstellungen nach Italien vorübergehend auszusetzen (mit Ausnahme von Familienzusammenführungen mit unbegleiteten Minderjährigen), mit Hinweis auf notwendige Umplanungen im Aufnahmesystem. Der Zeitablauf von nunmehr drei Monaten seit dieser Ankündigung spricht bereits dagegen, dass die angekündigte Umplanung innerhalb der nächsten sechs Monate abgeschlossen und der Kläger überstellt werden könnte.

(Leitsätze der Redaktion; entgegen: OVG NRW, Urteil vom 15. Juli 2022 - 11 A 1138/21.A - asyl.net: M31155).

Siehe auch:

  • Rechtsprechungsübersicht: Dublin-Überstellungen und Abschiebungen »Anerkannter« nach Italien, Asylmagazin 1-2 / 2023, S. 12

Schlagwörter: Dublinverfahren, Italien, Abschiebungsanordnung, Abschiebungsverbot, Asylantragstellung, Asylgesuch, Aufnahmebedingungen, Selbsteintritt, Überstellung, Überstellungsfrist, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, AsylG § 34a Abs. 1 Satz 1, VO 604/2013 Art. 3 Abs. 1 Satz 2, VO 604/2013 Art. 12 Abs. 2 Satz 1, GR-Charta Art. 4, EMRK Art. 3
Auszüge:

[...]

Nach Maßgabe dessen bestehen zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts {§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AsylG) hinreichenden Anhaltspunkten dafür, dass das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen in Italien mit systemischen Mängeln behaftet ist, die die Gefahr einer dem Kläger drohenden unmenschlichen Behandlung im Sinne von Art. 4 GrCh, Art. 3 EMRK im Falle seiner Überstellung nach Italien nach sich ziehen wird. Dem Einzelrichter liegen - wie in der mündlichen Verhandlung eingehend erörtert - hinreichende Erkenntnisse vor, die den Schluss rechtfertigen, Italien hält derzeit die in der Grundrechte-Charta der EU, der EMRK oder der GFK verbrieften Rechte von Asylbewerbern nicht ein [...].

Das gilt im derzeitigen Zeitpunkt auch für den Kläger, der nach seinem eigenen Vortrag in der mündlichen Verhandlung nie in Italien war, mithin in Italien keinen Asylantrag stellte, dort keine Fingerabdrücke abgegeben und nie in einer Unterbringungseinrichtung gelebt hatte. Dabei zieht das Gericht durchaus in den Blick, dass das OVG NRW für diesen Personenkreis in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung anderer Obergerichte festgestellt hatte, dass eine Überstellung nach Italien keine unmenschliche Behandlung nach sich ziehe (OVG NRW, Urteil vom 15. Juli 2022 - 11 A 1138/21.A -, unter: justiz.nrw.de).

Das OVG NRW führte insofern im Gegensatz zu seiner Rechtsprechung zu Asylantragstellern, die in Italien bereits einen Asylantrag gestellt hatten, OVG NRW, Urteil vom 20. Juli 2021 - 11 A 1689/20.A -, unter: justiz.nrw.de, an der festgehalten wird, zu einem Kläger, der über Mailand nach Köln weitergereist war, unter Berücksichtigung zahlreicher Auskünfte zu den Aufnahmebedingungen in Italien aus:

"[...]

Die Unterbringung ist regelmäßig für die Dauer des Asylverfahrens und eines etwaigen Rechtsmittelverfahrens gewährleistet, (...) und stellt jedenfalls eine Minimalversorgung sicher, (...) die eine systemisch begründete, ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i. S. v. Art. 4 GRCh nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit erwarten lässt. Auch der Zugang zum italienischen Gesundheitssystem ist jedenfalls für Asylsuchende, deren Asylantrag formell registriert ist ("verbalizzazione") und die mit der Unterbringung in einer Aufnahmeeinrichtung über einen Wohnsitz verfügen, gewährleistet."

Dem kann sich das erkennende Gericht im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung unter Berücksichtigung neuerer Erkenntnisse und entsprechender Prüfung der aktuellen Verhältnisse in Italien derzeit nicht mehr anschließen. Es spricht gerade unter der neuen Regierung in Italien Hinreichendes dafür, dass sich die Aufnahmebedingungen für Personen, die im Rahmen unionsrechtlicher Verpflichtungen rücküberstellt werden, verändert, insbesondere maßgeblich verschlechtert haben. Zwar ist den politischen Statements der rechtsnationalistischen Regierung zunächst nur zu entnehmen, dass die ergriffenen Maßnahmen nach der internationalen Berichterstattung in den Medien darauf zielen, dass Italien auf eine Abschottung der Außengrenzen setzt und Hilfsorganisationen auf dem Mittelmeer kriminalisiert [...].

Das ist - wie noch auszuführen ist - aufgrund steigender Zahlen nicht gelungen. Maßgeblich ist derzeit, dass das italienische Innenministerium die Dublin-Einheiten der Mitgliedstaaten der Europäischen Union mit Schreiben vom 5. und 7. Dezember 2022 gebeten, Überstellungen nach Italien ab dem 6. Dezember 2022 vorübergehend auszusetzen, mit Ausnahme von Fällen der Familienzusammenführung von unbegleiteten Minderjährigen. Grund seien plötzlich aufgetretene technische Gründe, die mit der Nichtverfügbarkeit von Aufnahmeeinrichtungen zusammenhingen. In Anbetracht der hohen Zahl von Ankünften sowohl an den See- als auch an den Landgrenzen müssten die Aufnahmeaktivitäten für Drittstaatsangehörige neu geplant werden, auch in Anbetracht des Mangels an verfügbaren Aufnahmeplätzen. Gesteht mithin die italienische Regierung selbst ein, dass derzeit keine Unterbringungsmöglichkeiten für Drittstaatsangehörige im Falle einer Dublinüberstellung bestehen, sind die Grundvoraussetzungen ("Brot, Bett, Seife") im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nicht erfüllt. Das Anhalten lässt zudem nicht erkennen, dass sich die Situation zeitnah ändern wird.

Unabhängig davon und selbständig tragend steht derzeit nicht fest, dass die Abschiebung nach Italien im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung mit der Prognose auf die nunmehr beginnende sechsmonatige Überstellungsfrist innerhalb dieser durchgeführt werden kann. Das italienische Innenministerium hat die Dublin-Einheiten der Mitgliedstaaten der Europäischen Union - wie ausgeführt und in der mündlichen Verhandlung, an der kein Vertreter der Beklagten teilgenommen hat, ausführlichst erörtert - mit Schreiben vom 5. und 7. Dezember 2022 gebeten, Überstellungen nach Italien ab dem 6. Dezember 2022 vorübergehend auszusetzen, mit Ausnahme von Fällen der Familienzusammenführung von unbegleiteten Minderjährigen. Grund seien plötzlich aufgetretene technische Gründe, die mit der Nichtverfügbarkeit von Aufnahmeeinrichtungen zusammenhingen. In Anbetracht der hohen Zahl von Ankünften sowohl an den See- als auch an den Landgrenzen müssten die Aufnahmeaktivitäten für Drittstaatsangehörige neu geplant werden, auch in Anbetracht des Mangels an verfügbaren Aufnahmeplätzen. [...]

Das Gericht versteht die Erklärungen des italienischen Innenministeriums dahingehend, dass zunächst lediglich eine vorübergehende Suspendierung ("temporarily suspend") der geplanten Überstellungen erbeten worden ist, um die Aufnahme von Drittstaatsangehörigen neu zu planen ("re-scheduling of the reception activities"). Dafür, dass eine Überstellung des Klägers nach Italien innerhalb der mit der Zustellung dieses Urteils (neu) beginnenden sechsmonatigen Frist - dem nach Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO maßgeblichen Zeitrahmen für die Durchführung der Überstellung - erfolgen könnte, bestehen zum Entscheidungszeitpunkt hinreichende Anhaltspunkte. Der Zeitablauf von nunmehr fast drei Monaten spricht bereits dagegen, dass die in den Schreiben vom 5. und vom 7. Dezember 2022 angekündigte Umplanung im italienischen Aufnahmesystem bis zum Ablauf der Überstellungsfrist zu bewältigen ist. Gerade die aktuellen Asylantragszahlen in Italien - und damit auch der Unterbringungsbedarf für Asylbewerber und international Schutzberechtigte in der ersten Zeit nach ihrer Anerkennung - sind zwar im Vergleich zu den Jahren 2016 und 2017 signifikant gesunken, indes im Jahr 2023 wieder stark angestiegen. So wurden im Jahr 2016 122.960, im Jahr 2017 128.850, im Jahr 2018 59.950, im Jahr 2019 43.770, im Jahr 2020 26.940, im Jahr 2021 53.610 und im Jahr 2022 78.897 Asylanträge gestellt. [...]