Familienasyl bei religiös geschlossener Ehe durch Stellvertretung ("Handschuhehe"):
1. Ob eine Ehe gemäß § 26 Abs. 1 AsylG wirksam geschlossen ist, bestimmt sich nach dem Recht des Herkunftsstaates der Asylsuchenden. Ist in dem Herkunftsstaat (hier: Irak) eine allein nach religiösem Ritus geschlossene Ehe wirksam, handelt es sich um eine im Hinblick auf das Familienasyl wirksame Eheschließung.
2. Etwas anderes gilt nach internationalem Privatrecht nur, wenn die Eheschließung gemäß Art. 6 EGBGB gegen den ordre public verstößt, d.h. mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts offensichtlich unvereinbar ist.
3. Bei einer Eheschließung durch Stellvertretung (sog. Handschuhehe) ist ein Verstoß gegen den ordre public nicht anzunehmen, wenn die Stellvertretung sich bloß auf die Abgabe der Erklärung der Eheschließung bezieht (Stellvertretung in der Erklärung). Ein Verstoß gegen den ordre public und daraus folgend die hiesige Unwirksamkeit der Eheschließung ist aber anzunehmen, wenn die Entscheidung über das Ob der Eheschließung und die Auswahl des Ehepartners/der Ehepartnerin nicht diesen überlassen bleibt, sondern durch eine*n Stellvertreter*in erfolgt (Stellvertretung im Willen). Die hiesige Wirksamkeit einer Eheschließung durch Stellvertretung hängt folglich davon ab, ob im Einzelfall Anhaltspunkte für eine Stellvertretung im Willen vorliegen.
(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: BGH, Beschluss vom 29.09.2021 - XII ZB 309/21 - asyl.net: M30180)
[...]
Gemessen hieran ist die Berufung nicht wegen einer grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zuzulassen.
a) Die Beklagte wirft die Frage auf, "ob Familienasyl nach § 26 Abs. 1 i. V. m. Abs. 5 AsylG auch dann zu gewähren ist, wenn die nach dem Recht des Verfolgerstaates auch ohne staatliche Registrierung wirksame Ehe dort allein nach religiösem Ritus vor einem Imam in Anwesenheit nur des Bräutigams und mit nachträglicher Bestätigung seitens der Braut geschlossen wurde (sog. "Handschuhehe")."
Diese Frage lässt sich anhand der vorhandenen Rechtsprechung und Literatur grundsätzlich bejahen (hierzu unter aa). Im Übrigen ist ihre Beantwortung von den Umständen des jeweiligen Einzelfalls abhängig (hierzu unter bb).
aa) Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist Ehe im Sinne des § 26 Abs. 1 Nr. 2 AsylVfG (jetzt § 26 Abs. 1 Nr. 2 AsylG) nur eine bereits im Verfolgerstaat eingegangene und von diesem als Ehe anerkannte und registrierte Lebensgemeinschaft zwischen Mann und Frau (vgl. BVerwG, Urteil vom 22.2.2005 – 1 C 17.03 – juris Rn. 9; s. a. Beschluss vom 11.8.1999 – 9 B 19.99 – juris Rn. 3; Urteil vom 15.12.1992 – 9 C 61.91 – juris Rn. 7). Eine nur nach religiösem Ritus mit Eheschließungswillen eingegangene Verbindung, die der Heimatstaat nicht anerkennt, ist dagegen keine Ehe im Sinne des § 26 Abs. 1 Nr. 2 AsylG. [...]
Demnach ist für die Frage der Wirksamkeit einer Verbindung zwischen Mann und Frau, die nach § 26 AsylG als Ehe den Anspruch auf Gewährung von Familienasyl vermitteln kann, nicht das deutsche Eherecht, sondern das Eherecht des Herkunftsstaates maßgeblich (vgl. NdsOVG, Urteil vom 9.12.2002 – 2 L 3490/96 – juris Rn. 44 m. w. N.). [...]
Ist nach dem Recht des Verfolgerstaates eine Ehe, die allein nach religiösem Ritus vor einem Imam geschlossen wurde, auch ohne staatliche Registrierung wirksam, weil die Registrierung nur deklaratorisch wirkt – dies unterstellt die Beklagte mit ihrer Frage –, ist diese Ehe vom Verfolgerstaat anerkannt und deshalb eine nach Maßgabe der Vorschriften des Familienasyls wirksame Eheschließung (vgl. VG Berlin, Urteil vom 22.7.2022 – 5 K 361.17 A – juris Rn. 21 = FamRZ 2022, 1460 mit Anmerkung Prof. Dr. Ebert; VG Oldenburg, Urteil vom 2.1.2018 – 3 A 4808/16 – juris Rn. 21; VG Sigmaringen, Beschluss vom 5.12.2011 – A 1 K 677/10 – juris Rn. 3).
Die Anerkennung einer Ehe i. S. d. § 26 Abs. 1 Nr. 2 AsylG verlangt in einem solchen Fall, in dem eine Ehe im Verfolgerstaat auch ohne staatliche Registrierung wirksam ist, nicht darüber hinaus, dass eine solche Ehe im Verfolgerstaat registriert ist. [...]
Ist – wie in dem von der Beklagten mit ihrer Frage unterstellten Fall – nach dem Recht des Verfolgerstaates eine allein nach religiösem Ritus vor einem Imam geschlossene Handschuhehe auch ohne staatliche Registrierung wirksam, folgt hieraus zugleich, dass in einem solchen Fall eine staatliche Registrierung keine zwingende Formvorschrift für die Gültigkeit der Ehe ist. In einem solchen Fall ist die Handschuhehe nach religiösem Ritus vor einem Imam auch ohne eine staatliche Registrierung als Ehe i. S. d. § 26 Abs. 1 Nr. 2 AsylG anzuerkennen.
bb) Eine grundsätzliche Klärungsbedürftigkeit der aufgeworfenen Frage ergibt sich auch nicht im Hinblick auf den Einwand der Beklagten, eine solche Handschuhehe verstoße gegen den ordre public (Art. 6 EGBGB).
Für die Beantwortung der Frage, ob eine Handschuhehe gegen den deutschen ordre public gemäß Art. 6 EGBGB verstößt, kommt es darauf an, ob die Anwendung fremden Rechts im Einzelfall mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts, wozu insbesondere die Grundrechte gehören, unvereinbar ist (vgl. BGH, Beschluss vom 29.9.2021 – XII ZB 309/21 – juris Rn. 19). [...]
Die Beklagte wendet ein, eine nach islamischem Recht geschlossene Handschuhehe böte keinerlei Gewähr dafür, dass die Ehefrau sie freiwillig eingehe. Nach deutschem Recht müssten die Eheschließenden die auf die Eingehung der Ehe gerichteten Erklärungen persönlich und bei gleichzeitiger Anwesenheit vor dem Standesbeamten abgegeben (§§ 1310 Abs. 1, 1311 BGB). [...]
Es trifft zwar zu, dass eine Handschuhehe von der deutschen Regel des § 1311 BGB abweicht. Nach § 1311 BGB müssen die Eheschließenden die Erklärungen nach § 1310 Abs. 1 BGB, die Ehe miteinander eingehen zu wollen, persönlich und bei gleichzeitiger Anwesenheit abgeben.
Ob der Inhalt einer ausländischen Vorschrift den Vorstellungen deutschen Rechts entspricht, ist jedoch für sich genommen unerheblich. Insoweit ist nicht zu prüfen, ob eine Eheschließung nach ausländischem Recht gemessen an Art. 6 Abs. 1 GG allgemeinen Bedenken unterliegt (vgl. BGH, Beschluss vom 29.9.2021 – XII ZB 309/21 – juris Rn. 19). Auch wenn nach deutschem Recht eine Stellvertretung bei der Eheschließung ausscheidet, bedeutet dies nicht zwangsläufig einen ordre-public-Verstoß. Vielmehr stände dies der Wertung des Gesetzes entgegen. Denn nach Art. 11 Abs. 1 EGBGB genügt grundsätzlich die Ortsform. Dies muss auch für im Ausland geschlossene Ehen gelten (vgl. Staudinger/Beiderwieden, jurisPR-IWR 1/2022 Anm. 3). Die bloße Stellvertretung in der Erklärung zur Eheschließung – wie sie in der Handschuhehe erfolgt – führt deshalb grundsätzlich nicht zu einer Unvereinbarkeit mit dem ordre public (vgl. BGH, Beschluss vom 29.9.2021, a. a. O., Rn. 18 ff.; BayOLG, Beschluss vom 28.11.2000 – 1Z BR 59/00 – juris Rn. 13). [...]
Allerdings kann ein Verstoß gegen den ordre public gemäß Art. 6 EGBGB – wie bereits ausgeführt – vorliegen, wenn die Anwendung fremden Rechts im Einzelfall mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts, wozu insbesondere die Grundrechte gehören, unvereinbar ist (vgl. BGH, Beschluss vom 29.9.2021 – XII ZB 309/21 – juris Rn. 19; Urteil vom 6.10.2004 – XII ZR 225/01 – juris Rn. 41; vgl. auch D. Baetge in Herberger/Martinek/Rüßmann/Weth/Würdinger, jurisPK-BGB, 9. Aufl. 2020, Art. 6 EGBGB Rn. 56 m. w. N.).
Dies kann bei einer sog. Stellvertretung "im Willen" der Fall sein. Eine derartige Stellvertretung "im Willen", bei der einer dritten Person die Entscheidung über das "Ob" der Eheschließung und die Auswahl des Ehepartners überlassen bleibt, verstößt gegen die Menschenwürde sowie die Grundrechte auf Eheschließungsfreiheit und auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (vgl. OLG Oldenburg, Beschluss vom 30.1.2020 – 12 W 63/19 (PS) – juris Rn. 16; OLG Zweibrücken, Beschluss vom 8.12.2010 – 3 W 175/10 – juris Rn. 7). Der ordre public ist aber dann nicht verletzt, wenn feststeht, dass die Handschuhehe unter Beteiligung des Stellvertreters gerade mit der Person geschlossen wird, welcher die/der vertretene Verlobte aufgrund eigenen Willensentschlusses tatsächlich zu diesem Zeitpunkt heiraten will (vgl. OLG Zweibrücken, Beschluss vom 8.12.2010, a. a. O., Rn. 7; BayOLG, Beschluss vom 28.11.2000 – 1Z BR 59/00 – juris Rn. 9; Mäsch in Herberger/Martinek/Rüßmann/Weth/Würdinger, a. a. O., Art. 13 EGBGB Rn. 46).
Ob das konkrete Ergebnis der Anwendung des ausländischen Rechts aus der Sicht des deutschen Rechts zu missbilligen ist, hängt demnach davon ab, ob im Einzelfall Anhaltspunkte für eine Stellvertretung im Willen bei der Beschließung der Handschuhehe vorliegen (vgl. OLG Zweibrücken, Beschluss vom 8.12.2010 – 3 W 175/10 – juris Rn. 7). Dies ist einer grundsätzlichen Klärung im Berufungsverfahren nicht zugänglich. [...]