VG Kassel

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Zitieren als:
VG Kassel, Urteil vom 30.01.2023 - 7 K 4212/17.KS.A (Asylmagazin 4/2023, S. 95 f.) - asyl.net: M31339
https://www.asyl.net/rsdb/m31339
Leitsatz:

Ehemaligen Ortskräften aus Afghanistan ist bei direkter Beschäftigung regelmäßig die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen:

"Sogenannten ehemaligen Ortskräften aus Afghanistan ist zur maßgeblichen Sach- und Rechtslage jedenfalls dann regelhaft die Flüchtlingseigenschaft gem. § 3 AsylG zuzusprechen, wenn die Tätigkeit der Ortskraft für die Taliban ohne Weiteres wahrnehmbar ist. Dies ist etwa dann der Fall, wenn über einen nicht nur unerheblichen Zeitraum ein direktes Beschäftigungsverhältnis (nicht nur als Subunternehmer) zu einer westlichen Einrichtung bestand, weil dann grundsätzlich auch eine für die Taliban zu erlangende Dokumentation der Tätigkeit existiert."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Afghanistan, Ortskraft, Vereinte Nationen, UNO, Flüchtlingsanerkennung, Taliban, politische Verfolgung, religiöse Verfolgung,
Normen: AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3a Abs. 1, AsylG § 3a Abs. 2, AsylG § 3c, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 2, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 5, AsylG § 3b Abs. 2
Auszüge:

[...]

Davon ausgehend ist dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

a. Weil der Kläger zur Überzeugung des Gerichts langjährig für die UNFAO in Afghanistan gearbeitet hat und er deshalb als besonders gefährdete sogenannte ehemalige Ortskraft einzustufen ist, ist mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu besorgen, dass er im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan (erneut) flüchtlingsrelevanter Verfolgung ausgesetzt wäre.

aa. Sogenannten ehemaligen Ortskräften aus Afghanistan ist zur maßgeblichen Sach- und Rechtslage (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 AsylG) jedenfalls dann regelhaft die Flüchtlingseigenschaft gem. § 3 AsylG zuzusprechen, wenn sie über einen nicht nur unerheblichen Zeitraum in einem direkten Beschäftigungsverhältnis zu einer westlichen Einrichtung standen. Solchen droht bei Rückkehr nach Afghanistan derzeit nämlich grundsätzlich mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit flüchtlingsrelevante Verfolgung: Ihnen droht die Anwendung von erheblicher physischer Gewalt (§ 3a Abs. 1, 2 AsylG) durch die - nunmehr Staatsmacht ausübende - Gruppierung der Taliban (§ 3c AsylG). Dem liegen zudem von den Taliban generell unterstellte sowie flüchtlingsrelevante Verfolgungsmotive zugrunde, namentlich eine missbilligte religiöse sowie politische Überzeugung (§ 3b Abs. 1 Nr. 2, 5 und Abs. 2 AsylG). Zuletzt existiert für ehemalige Ortskräfte derzeit kein tauglicher Schutzakteur (§ 3d AsylG) oder eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 3e AsylG). [...]

Nach der Machtübernahme der Taliban - am 15. August 2021 - hat sich die Sicherheitslage in Afghanistan für sogenannte ehemalige Ortskräfte, also Afghanen, die vor der Machtübernahme in Afghanistan mit westlichen Staaten oder Organisationen zusammengearbeitet haben, in gravierendem Ausmaß verschlechtert. Sie sind dort einem akuten Verfolgungsrisiko durch die Taliban ausgesetzt und insofern Ziel von Einschüchterungen, Bedrohungen und lebensbedrohlichen Vergeltungsangriffen. So sollen nach Art. 11 des Verhaltenskodex der Taliban ("Layeha") diejenigen hingerichtet werden, die für die sogenannten Kuffar - ausländische Ungläubige - arbeiten oder gearbeitet haben, wobei auch ein längerer Zeitraum seit Ende der Tätigkeit nicht vor Verfolgung schützt. Ortskräfte werden von den Taliban generell des politischen und religiösen Widerstands gegen das Talibanregime bezichtigt. Sie sind auch akut gefährdet, von den Taliban gezielt gesucht und belangt zu werden. Erstens sind zuvor mehrfach angekündigte Generalamnestien für ehemalige Ortskräfte von den Taliban nicht eingehalten worden. Zweitens werten die Taliban bei ihrer Suche nach Ortskräften im Internet verfügbare Videos und Fotos aus; sie verfügen über Spezialkräfte, die in Sachen Informationstechnik und Bildforensik gut ausgebildet und ausgerüstet sind. Allerdings versprechen diese oder sonstige Suchmethoden (Befragungen, Auswerten des vielfach zurückgelassenen Aktenmaterials etc.) nicht uneingeschränkt Erfolg. Hiervon ist nur dann auszugehen, wenn die Tätigkeit für die Taliban ohne Weiteres wahrnehmbar ist. Dies ist etwa dann der Fall, wenn über einen nicht nur unerheblichen Zeitraum  in direktes Beschäftigungsverhältnis (nicht nur als Subunternehmer) zu einer westlichen Einrichtung bestand, weil dann grundsätzlich auch eine für die Taliban zu erlangende Dokumentation der Tätigkeit existiert. Kann in diesen Fällen mithin sogar regelhaft davon ausgegangen werden, dass die Ortskraft von den Taliban auch tatsächlich als solche identifiziert werden wird, greift diese Regelvermutung bei einer weniger intensiven Verbindung zwischen Ortskraft und westlichem Akteur nicht Platz. Ob die Taliban auch in diesen Fällen - aus ihrer Sicht belastbare - Hinweise für eine Tätigkeit als Ortskraft finden können, bedarf vielmehr weiterer Anhaltspunkte im Einzelfall. Werden Ortskräfte indes aufgespürt, werden sie regelmäßig Opfer schwerer Menschenrechtsverletzungen durch die Taliban, vor allem drohen außergerichtliche Hinrichtungen, oft nach öffentlichen Demütigungen und Folter. [...]