VG Halle

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Zitieren als:
VG Halle, Beschluss vom 09.02.2023 - 1 A 316/22 HAL - asyl.net: M31333
https://www.asyl.net/rsdb/m31333
Leitsatz:

Bei nicht zeitnaher Überstellung im Dublinverfahren besteht Anspruch auf Erteilung einer Duldung:

1. Eine tatsächliche Unmöglichkeit der Abschiebung ist zu bejahen, wenn nicht absehbar ist, innerhalb welchen Zeitraums die vollziehbare Ausreisepflicht des Klägers durchgesetzt wird.

2. Es entspricht der gesetzgeberischen Konzeption des Aufenthaltsgesetzes, einen vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländer entweder unverzüglich abzuschieben oder ihn zu dulden. Die Systematik des Aufenthaltsgesetzes lässt grundsätzlich keinen Raum für einen ungeregelten Aufenthalt. Als gesetzlich vorgeschriebene förmliche Reaktion auf ein Vollstreckungshindernis ist eine Duldung zu erteilen, um eine mögliche Strafbarkeit des Ausländers nach § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG zu vermeiden.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Duldung, Überstellung, Dublinverfahren,
Normen: AufenthG § 60a Abs. 2 Satz 1, AufenthG § 95 Abs. 1 Nr. 2
Auszüge:

[...]

Unter Zugrundelegung dieses Prüfungsmaßstabs bietet die Klage, mit der der Kläger die Erteilung einer Duldung begehrt, hinreichende Aussicht auf Erfolg. [...] Gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist die Abschiebung eines Ausländers auszusetzen, solange die Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist und keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird. Vorliegend dürfte eine tatsächliche Unmöglichkeit der Abschiebung zu bejahen sein, weil zum jetzigen Zeitpunkt nicht absehbar ist, innerhalb welchen Zeitraums die seit fast einem Jahr bestehende vollziehbare Ausreisepflicht des Klägers durchgesetzt wird.

Es entspricht der gesetzgeberischen Konzeption des Aufenthaltsgesetzes, einen vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländer bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen entweder unverzüglich abzuschieben oder ihn nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG zu dulden. Dabei hat die Ausländerbehörde nicht nur zu prüfen, ob die Abschiebung eines Ausländers überhaupt durchgeführt werden kann, sondern auch, innerhalb welches Zeitraums diese möglich ist und zu welchem Zeitpunkt ein eventuelles Abschiebungshindernis behoben werden kann. Die Systematik des Aufenthaltsgesetzes lässt grundsätzlich keinen Raum für einen ungeregelten Aufenthalt. Schon dann, wenn sich herausstellt, dass die Abschiebung nicht ohne Verzögerung durchgeführt werden kann oder der Zeitpunkt der Abschiebung ungewiss bleibt, ist als gesetzlich vorgeschriebene förmliche Reaktion auf ein Vollstreckungshindernis eine Duldung zu erteilen, um eine mögliche Strafbarkeit des Ausländers nach § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG zu vermeiden. [...] Kann die vollziehbare Ausreisepflicht aus verwaltungsorganisatorischen Gründen nicht zeitnah durchgesetzt werden, handelt es sich um einen Unterfall der tatsächlichen Unmöglichkeit der Abschiebung. [...]

Die Abschiebungsanordnung ist seil dem 13. Februar 2022 vollziehbar. Bis auf einen erfolglosen Überstellungsversuch nach Kroatien am 25. März 2022 sind in dem als vollständig vorgelegten Verwaltungsvorgang des Beklagten keine weiteren Maßnahmen zur Überstellung des Klägers nach Kroatien dokumentiert. Auf Nachfrage des Gerichts hat der Beklagte mit Schreiben vom 17. Januar 2023 vielmehr mitgeteilt, dass ein konkreter Überstellungstermin bisher nicht feststehe. [...]

Hingegen handelt es sich bei der vom Kläger begehrten - rein verwaltungsorganisatorisch bedingten - Duldung der Sache nach um eine Verfahrensduldung im Verwaltungsvollstreckungsverfahren, welche die Vollziehbarkeit der Abschiebungsanordnung nicht tangiert. [...]

Eine "DÜ-Bescheinigung", die ohne gesetzliche Grundlage ausgestellt wird, ersetzt keine Duldungsbescheinigung nach § 60a Abs. 4 AufenthG, weil durch erstere eine mögliche Strafbarkeit des Klägers nach § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG nicht ausgeschlossen wird. Denn die Abschiebung des Klägers ist entgegen § 95 Abs. 1 Nr. 2c AufenthG gerade nicht ausgesetzt. [...]