VG Hamburg

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Zitieren als:
VG Hamburg, Urteil vom 26.07.2022 - 2 A 2724/18 - asyl.net: M31327
https://www.asyl.net/rsdb/m31327
Leitsatz:

Abwendung vom Islam und Hinwendung zum christlichen Glauben in Libyen

Libysche Staatsangehörige, die sich vom Islam abwenden und zum Christentum hinwenden, sind in Libyen einem erheblichen Druck von unterschiedlichen Seiten ausgesetzt, der sich zu einer flüchtlingsrechtlich erheblichen Verfolgungsgefahr verdichtet, wenn die Betroffenen ihren Glauben in identitätsprägender Weise nach außen erkennbar ausüben (möchten) (Rn. 34).

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Libyen, Christen, Konvertiten, Apostasie, religiöse Verfolgung, Religionszugehörigkeit, Religionsgemeinschaft,
Normen: AsylG § 3
Auszüge:

[...]

34 aa) Das Gericht entnimmt den in das Verfahren eingeführten Erkenntnisquellen, dass die Abwendung vom Islam und Hinwendung zum christlichen Glauben in Libyen ein nicht unerhebliches Gefährdungspotential birgt, das sich im Einzelfall zu einer flüchtlingsrechtlich erheblichen Verfolgungsgefahr verdichten kann.

35 In Libyen ist der Islam Staatsreligion [...]. Sowohl die Verfassungserklärung von 2011 als auch der Verfassungsentwurf von 2017 erklären die Scharia zur Hauptquelle der Gesetzgebung [...]. Nach § 291 des libyschen Strafgesetzbuchs (Anlage 1 zum Sitzungsprotokoll), welcher erst im Jahr 2016 verschärft wurde [...], wird jeder religiös erwachsene Moslem, der vom islamischen Glauben durch Wort oder Tat abfällt, mit der Todesstrafe bestraft (es sei denn, der Täter bereut die Tat vor der Vollstreckung des Urteils). Eine Verhöhnung des Islam, die den Grad der Apostasie nicht erreicht, wird mit Freiheitsstrafe bestraft. Mit der Todesstrafe wird hingegen bestraft, wer kein Moslem ist und den Islam öffentlich verhöhnt. Auch wenn Anklagen wegen Apostasie selten zu sein scheinen [...], verbietet das libysche Strafgesetzbuch, auch in weiteren Strafvorschriften, missionarische Tätigkeiten und Konversionen nach den Erkenntnissen des Außenministeriums der Vereinigten Staaten von Amerika, das sich auf die Einschätzung von Wissenschaftlern und Menschenrechtsanwälten stützt, in effektiver Weise. Danach kriminalisieren staatliche Behörden (und Milizen) außerdem die Verbreitung nicht-islamischer religiöser Inhalte sowie den Islam beleidigende Äußerungen [...]. Die Organisation Open Doors berichtet, die Einfuhr christlicher Literatur und von Bibeln in arabischer Sprache sei verboten (Open Doors, Länderprofil Libyen, S. 4; Open Doors, Libya: Full Country Dossier, December 2021 [im Folgenden: Libya Country Dossier], S. 34). Außerdem sei Konvertiten die Teilnahme an Gottesdiensten praktisch nicht möglich [...].

36 Darüber hinaus müssen Konvertiten, die sich zum christlichen Glauben bekennen, übereinstimmenden Berichten zufolge mit Inhaftierungen, Entführungen und körperlichen Misshandlungen, einschließlich sexueller Gewalt, bis hin zu Tötungen seitens der in Libyen landesweit aktiven Milizen bzw. bewaffneter Gruppierungen sowie organisierter krimineller Vereinigungen rechnen [...]. Ferner wird übereinstimmend davon berichtet, dass Konvertiten erheblichem Druck aus ihrem familiären und sozialen Umfeld ausgesetzt sind. Sich vom Islam abzuwenden und zum Christentum hinzuwenden, wird danach nicht nur als Verrat am Islam, sondern zugleich an Familie und Stamm verstanden. Konvertiten würden von ihren Familien dazu gedrängt, dem christlichen Glauben abzuschwören. Ihnen drohe einerseits erheblicher sozialer Druck (Verstoßung, Zwangsheirat, Verlust des Sorgerechtes für die eigenen Kinder), andererseits aber auch schwere Gewalt bis hin zum Tod [...]. Auf der Grundlage einer ausführlichen Untersuchung aus Dezember 2021 gelangt Open Doors zu der Einschätzung, dass die religiös motivierten Gewalttaten und Bedrohungen insgesamt ein hohes Maß erreichen [...].

37 Hinzu treten weitere Einschränkungen und Diskriminierungen. Im aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amts heißt es, nicht-muslimische Personen würden häufig rechtlich diskriminiert. Nach dem aktuellen Verfassungsentwurf könnten sie keine hoheitlichen Tätigkeiten für den Staat ausüben und seien – auch gemäß den Wahlgrundlagen für die ursprünglich für Dezember 2021 vorgesehenen Wahlen – vom passiven Wahlrecht für Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ausgeschlossen [...]. Nach den Erkenntnissen von Open Doors werden Konvertiten nicht im Staatsdienst beschäftigt [...]. Im Übrigen droht ihnen den Quellen zufolge ein Verlust des Arbeitsplatzes [...]. Open Doors berichtet zudem, dass libyschen Staatsangehörigen, die zum christlichen Glauben konvertieren, eine offizielle christliche Hochzeit nicht möglich sei. Dies gelte ebenso für Beerdigungen nach christlichen Riten [...]. Überdies können Konvertiten, insbesondere Frauen, gezwungen sein, sich islamischen Standards entsprechend zu kleiden, um keine Aufmerksamkeit zu erregen und sich nicht der Gefahr von Gewalttaten auszusetzen [...].

40 In der Gesamtschau sind libysche Staatsangehörige, die sich vom Islam abwenden und zum christlichen Glauben hinwenden, landesweit einem erheblichen Druck von unterschiedlichen Seiten ausgesetzt, der sich zur Überzeugung des Gerichts im Einzelfall zu einer flüchtlingsrechtlich erheblichen Verfolgungsgefahr verdichtet, wenn die Betroffenen ihren Glauben in identitätsprägender Weise nach außen erkennbar ausüben (möchten). Hierbei sind maßgeblich die zu befürchtenden erheblichen Repressionen aus dem sozialen Umfeld und die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen einer den Konvertiten gegenüber nachhaltig feindseligen Atmosphäre zu berücksichtigen, welche auch die Beklagte nicht in Abrede stellt, und denen die Betroffenen nach den vorgenannten Berichten schutzlos ausgeliefert sind. [...]

42 Die Klägerin hat ihre inneren Beweggründe für ihren Glaubenswechsel ausführlich, in sich stimmig und lebendig geschildert. Nachvollziehbar hat sie dargelegt, dass sie sich als Opfer zweier Kriege, die auch im Namen des Islam geführt wurden, sieht. Insofern hat sie anschaulich und anhand konkreter Ereignisse ausgeführt, dass sich ihre Abkehr vom Islam als Prozess gestaltet habe, der im Jahr 2011 begonnen und im Jahr 2014 zum endgültigen Bruch mit ihrem bisherigen Glauben geführt habe. [...] Die Einschätzung der Beklagten in dem streitgegenständlichen Bescheid, die Angaben der Klägerin zu der Entführung seien aufgrund ihrer Oberflächlichkeit nicht glaubhaft, teilt das Gericht nicht. Aus Sicht des Gerichts war die Darstellung der Geschehensabläufe in den zentralen Punkten hinreichend detailliert. Dabei wertet das Gericht es gerade als authentisch, dass die Klägerin Ereignisse, die mittlerweile acht Jahre zurückliegen, nicht in übertriebener Genauigkeit geschildert hat. Hinzu tritt, dass sie nachvollziehbar eingeräumt hat, dass ihre Wahrnehmungsfähigkeit aufgrund der ihr widerfahrenden Misshandlungen eingeschränkt gewesen sei und sie erst im Nachhinein einige Details wie die exakte Dauer der Entführung und die Einzelheiten der Freilassung von ihren Verwandten erfahren habe. [...]

44 Die Klägerin verfügt ferner über Kenntnisse der christlichen Religion, die nach Einschätzung des Gerichts auf einem nachhaltigen religiösen Interesse beruhen. [...]