VG Hamburg

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Zitieren als:
VG Hamburg, Beschluss vom 22.11.2022 - 2 AE 4167/22 - asyl.net: M31320
https://www.asyl.net/rsdb/m31320
Leitsatz:

Abschiebungsandrohung in anderen Staat als Herkunfts- oder Transitstaat nur bei Einverständnis:

1. § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylG i.V.m. 59 Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist unionsrechtskonform dahingehend auszulegen, dass in einer asylrechtlichen Abschiebungsandrohung nur ein Zielstaat benannt werden darf, der den Anforderungen des Art. 3 Nr. 3 RL 2008/115/EG entspricht. Die Androhung der Abschiebung in einen anderen Staat als das Herkunftsland oder ein Transitland darf unionsrechtlich nur erfolgen, wenn die schutzsuchende Person mit einer Ausreise oder Abschiebung dorthin ausdrücklich einverstanden ist.

2. Im Anwendungsbereich der Richtlinie 2008/115/EG darf nicht offengelassen werden, in welches Land die von einer Abschiebungsandrohung betroffene Person abgeschoben werden soll.

3. Bloße Spekulationen hinsichtlich des Herkunftsstaates aufgrund von Einschätzungen der in der Anhörung zum Asylantrag dolmetschenden Person sind keine ausreichende Grundlage, um den Herkunftsstaat zu bestimmen.

(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: VG Freiburg, Urteil vom 17.05.2022 - 10 K 5070/19 - asyl.net: M30918)

Schlagwörter: Abschiebungsandrohung, Herkunftsstaat, Unionsrecht, Staatsangehörigkeit, Rückführungsrichtlinie,
Normen: AsylG § 34 Abs. 1 S. 1, AufenthG §59 Abs. 2 S.1, AsylG § 3 Abs. 1 Nr. 2, RL 2008/115/EG Art. 3 Nr. 3, RL 2008/115/EG Art. 3 Nr. 4, RL 2008/115/EG Art. 6 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

7 1. Die streitgegenständliche Abschiebungsandrohung erweist sich als voraussichtlich rechtswidrig, soweit das Bundesamt dem Antragsteller eine Abschiebung nach Tunesien angedroht hat.

8 Rechtsgrundlage der Zielstaatsbestimmung ist § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylG i.V.m. § 59 Abs. 2 Satz 1 AufenthG. Danach soll in der Abschiebungsandrohung der Staat bezeichnet werden, in den der Ausländer abgeschoben werden soll. Nach dem herkömmlichen Verständnis dieser Regelung bestehen grundsätzlich keine weiteren Anforderungen an den Zielstaat der Abschiebung, insbesondere muss es sich nicht um den Herkunftsstaat der schutzsuchenden Person handeln [...]. Dieses Verständnis von § 59 Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist im Fall einer asylrechtlichen Abschiebungsandrohung indes mit den unionsrechtlichen Anforderungen an die Bestimmung des Zielstaates der Abschiebung nicht vereinbar. Es widerspricht der Richtlinie 2008/115/EG (sog. Rückführungsrichtlinie), in deren Lichte § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylG i.V.m. § 59 Abs. 2 Satz 1 AufenthG auszulegen ist [...].

9 Eine asylrechtliche Abschiebungsandrohung einschließlich der Zielstaatsbestimmung ist an der Rückführungsrichtlinie zu messen (vgl. nur BVerwG, Urt. v. 20.2.2020, 1 C 19.19, juris Rn. 23 ff.), denn es handelt sich dabei um eine Rückkehrentscheidung im Sinne von Art. 3 Nr. 4, Art. 6 Abs. 1 RL 2008/115/EG (vgl. BVerwG, Urt. v. 20.2.2020, 1 C 19.19, juris Rn. 23; OVG Lüneburg, Urt. v. 14.12.2017, 8 LC 99/17, juris Rn. 42; VGH Mannheim, Urt. v. 29.3.2017, 11 S 2029/16, juris Rn. 95). Welche Staaten als Ziel einer "Rückkehr" in Betracht kommen, bestimmt Art. 3 Nr. 3 RL 2008/115/EG (vgl. EuGH, Urt. v. 14.5.2020, C-924/19 PPU und C-925/19 PPU, juris Rn. 114 f.; OVG Lüneburg, Urt. v. 14.12.2017, 8 LC 99/17, juris Rn. 38 ff.; s. ferner Ziffer 1.3. des Anhangs zur Empfehlung (EU) 2017/2338 der Kommission vom 16.11.2017 für ein gemeinsames "Rückkehr-Handbuch", juris). Danach kann Zielstaat einer Rückkehr nur das Herkunftsland des Drittstaatsangehörigen, ein Transitland gemäß gemeinschaftlichen oder bilateralen Rückübernahmeabkommen oder anderen Vereinbarungen oder ein anderes Drittland sein, in das der Drittstaatsangehörige freiwillig zurückkehren will und in dem er aufgenommen wird. Herkunftsland in diesem Sinne ist wie in Art. 2 lit. n) RL 2011/95/EU (sog. Qualifikationsrichtlinie) und damit wie in § 3 Abs. 1 Nr. 2 AsylG das Land der Staatsangehörigkeit oder – bei Staatenlosen – des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes [...]. Hiervon ausgehend darf die Androhung der Abschiebung in einen anderen Staat als das Herkunftsland oder ein Transitland unionsrechtlich nur erfolgen, wenn die schutzsuchende Person mit einer Ausreise oder Abschiebung dorthin ausdrücklich einverstanden ist (vgl. Funke-Kaiser, in: GK-AufenthG, § 59 Rn. 64 [Stand: 127. Lfg., 09/2022]). [...]

11 Insbesondere besteht derzeit keine hinreichende Tatsachengrundlage für die Annahme, dass Tunesien das Herkunftsland des Antragstellers im Sinne von Art. 3 Nr. 3 Spiegelstrich 1 RL 2008/115/EG ist. Der Antragsteller selbst behauptet, libyscher Staatsangehöriger zu sein. Soweit das Bundesamt dies in seinem Bescheid vom 7. Oktober 2022 als nicht glaubhaft gewürdigt hat, ergibt sich hieraus nicht die positive Feststellung, dass der Antragsteller tunesischer Staatsangehöriger ist. Diese Einschätzung stützt das Bundesamt primär auf sprachliche Auffälligkeiten, welche sich im Rahmen der persönlichen Anhörung des Antragstellers ergeben haben sollen. An der Tragfähigkeit der Einschätzung bestehen jedoch erhebliche Zweifel. In dem angegriffenen Bescheid heißt es lediglich, nach Ansicht des in der Anhörung eingesetzten Dolmetschers passe das von dem Antragsteller gesprochene Arabisch "recht deutlich" zu einer Herkunft aus Tunesien. Ausweislich eines Vermerks in der Asylakte vom 14. September 2022 (lfd. Nr. 36 der eAsylakte) hat der Dolmetscher angegeben, das von dem Antragsteller gesprochene Arabisch habe deutliche Nuancen des Französischen enthalten, welche für das Arabisch in Libyen untypisch seien. Zudem habe der Antragsteller – nicht näher bezeichnete – "französische Begriffe aus dem Sprachgebrauch in Tunesien" problemlos verstanden. Eine derart allgemeine und nicht im Ansatz nachvollziehbar begründete Einschätzung erlaubt keinen belastbaren Schluss auf die Herkunft des Antragstellers und bleibt spekulativ, mag sie auch Anlass für weitere Ermittlungen bieten. [...]

12 Tunesien dürfte überdies kein Transitland im Sinne von Art. 3 Nr. 3 Spiegelstrich 2 RL 2008/115/EG sein. Ebenso wenig dürfte es sich um ein anderes Drittland im Sinne des Art. 3 Nr. 3 Spiegelstrich 3 RL 2008/115/EG handeln, da nicht ersichtlich ist, dass der Antragsteller damit einverstanden wäre, nach Tunesien zurückzukehren. [...]