Das Wohl eines ungeborenen Kindes kann die Zuständigkeit eines Mitgliedstaats im Rahmen des Selbsteintrittsrechts begründen:
1. Art. 16 Abs. 1 der Dublin-III-VO ist nicht anwendbar auf Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Ehegatten oder zwischen dem ungeborenen Kind der Antragstellerin und ihrem Ehegatten, der auch der Vater des Kindes ist.
2. Wenn das Kindeswohl es erfordert, kann für den Antrag einer zum Zeitpunkt der Antragstellung schwangeren Drittstaatsangehörigen gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO ein anderer Mitgliedstaat zuständig sein, als der nach den Kriterien der Art. 7 bis 15 der Dublin-III-VO bestimmt wurde.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 16 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. 2013, L 180, S. 31) (im Folgenden: Dublin-III-Verordnung).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits [...] wegen der Entscheidung des Staatssekretärs, den von der Drittstaatsangehörigen gestellten Antrag auf internationalen Schutz nicht zu bearbeiten und sie an die Republik Litauen zu überstellen, da jener Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags zuständig sei. [...]
15 Die Klägerin des Ausgangsverfahrens, eine syrische Staatsangehörige, erhielt von der Vertretung der Republik Litauen in Belarus ein vom 10. August 2016 bis 9. November 2017 gültiges Visum. [...]
17 Am 28. September 2017 stellte die Klägerin des Ausgangsverfahrens einen Asylantrag in den Niederlanden.
18 Am 10. Oktober 2017 heiratete die Klägerin einen Drittstaatsangehörigen, dem die Niederlande, in denen er sich seit dem Jahr 2011 aufhält, bereits Asyl gewährt hatten. Die Klägerin und ihr Ehemann kannten sich vor ihrer Heirat, lebten aber zu dieser Zeit nicht zusammen.
19 Am 12. Oktober 2017 ersuchten die niederländischen Behörden die litauischen Behörden um Aufnahme der Klägerin des Ausgangsverfahrens mit der Begründung, dass die Republik Litauen nach Art. 12 Abs. 2 oder 3 der Dublin-III-Verordnung für die Prüfung des Asylantrags zuständig sei.
20 Am 12. Dezember 2017 erklärten sich die litauischen Behörden mit der Aufnahme einverstanden.
21 Nachdem der Staatssekretär am 2. Februar 2018 den Entwurf der Entscheidung, die Klägerin des Ausgangsverfahrens nach Litauen zu überstellen, übersandt hatte, nahm die Klägerin des Ausgangsverfahrens zu dem Entwurf Stellung, indem sie am 16. Februar 2018 ihre Schwangerschaft anzeigte und diese nachwies. [...]
23 Am 20. Juni 2018 brachte die Klägerin des Ausgangsverfahrens in den Niederlanden eine Tochter zur Welt. Ein von der Klägerin des Ausgangsverfahrens vorgelegter Bericht zweier Sachverständiger vom 3. August 2018 gelangte auf der Grundlage eines Vergleichs von Genproben zu dem Ergebnis, dass ihr Ehegatte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit der leibliche Vater des Kindes sei. Nach niederländischem Recht ist er auch von Rechts wegen der Vater, da das Kind während der Ehe geboren wurde.
24 Der Staatssekretär erteilte daraufhin der Tochter der Klägerin des Ausgangsverfahrens eine befristete reguläre Aufenthaltserlaubnis, die der Beschränkung unterlag, dass der Aufenthalt "beim [Vater]" zu erfolgen habe.
25 Die Klägerin des Ausgangsverfahrens erhob bei der Rechtbank Den Haag (Bezirksgericht Den Haag, Niederlande), dem vorlegenden Gericht, Klage auf Aufhebung der streitigen Entscheidung. Zur Stützung dieser Klage machte sie einen Verstoß gegen Art. 9, Art. 16 Abs. 1 und Art. 17 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung im Licht des Wohls des zum Zeitpunkt der Antragstellung ungeborenen Kindes geltend. [...]
36 Mit seiner zweiten und seiner dritten Frage, die zusammen und als Erstes zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 16 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung dahin auszulegen ist, dass er anwendbar ist, wenn zwischen einer Person, die internationalen Schutz beantragt, und ihrem Ehegatten, der sich rechtmäßig in dem Mitgliedstaat aufhält, in dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, oder zwischen dem ungeborenen Kind des Antragstellers und dem Ehegatten, der auch der Vater des Kindes ist, ein Abhängigkeitsverhältnis besteht.
37 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten nach dem Wortlaut dieser Bestimmung in der Regel entscheiden, den Antragsteller und "sein Kind, eines seiner Geschwister oder ein Elternteil", das/der sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhält, nicht zu trennen bzw. sie zusammenzuführen, wenn zwischen ihnen ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, sofern die familiäre Bindung bereits im Herkunftsland bestanden hat, das Kind, eines der Geschwister, der Elternteil oder der Antragsteller in der Lage ist, die abhängige Person zu unterstützen und die betroffenen Personen ihren Wunsch schriftlich kundgetan haben.
38 Aus dem Wortlaut geht klar hervor, dass Art. 16 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung im Fall eines Abhängigkeitsverhältnisses zwischen einer Person, die internationalen Schutz beantragt, und ihrem Ehegatten nicht anwendbar ist, da ein solches Abhängigkeitsverhältnis von dieser Bestimmung nicht erfasst wird. [...]
41 Daraus folgt, dass diese Bestimmung im Fall eines Abhängigkeitsverhältnisses zwischen dem Kind eines solchen Antragstellers und einer dieser Personen, wie im vorliegenden Fall dem Vater des Kindes, der auch der Ehegatte der Antragstellerin auf internationalen Schutz des Ausgangsverfahrens ist, nicht anwendbar ist.
42 Nach alledem ist auf die zweite und die dritte Frage zu antworten, dass Art. 16 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung dahin auszulegen ist, dass er nicht anwendbar ist, wenn zwischen einer Person, die internationalen Schutz beantragt, und ihrem Ehegatten, der sich rechtmäßig in dem Mitgliedstaat aufhält, in dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, oder zwischen dem ungeborenen Kind des Antragstellers und dem Ehegatten, der auch der Vater des Kindes ist, ein Abhängigkeitsverhältnis besteht. [...]
44 Im vorliegenden Fall geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass das vorlegende Gericht, wie in Rn. 27 des vorliegenden Urteils ausgeführt, in einer Zwischenentscheidung im Kontext des Ausgangsverfahrens ursprünglich die Auffassung vertreten hat, dass der Staatssekretär in der streitigen Entscheidung die Auswirkungen von Art. 17 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung rechtlich nicht hinreichend geprüft habe. Nach der Verkündung des Urteils vom 23. Januar 2019, M.A. u. a. (C-661/17, EU:C:2019:53), hat das vorlegende Gericht diese Beurteilung jedoch offenbar später geändert.
45 Deshalb ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seiner ersten Frage im Wesentlichen wissen möchte, ob Art. 17 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung dahin auszulegen ist, dass er dem entgegensteht, dass die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats die zuständigen nationalen Behörden dazu verpflichten, einen Antrag auf internationalen Schutz einer zum Zeitpunkt der Antragstellung schwangeren Drittstaatsangehörigen allein aus Gründen des Wohls des Kindes zu prüfen, auch wenn nach den Kriterien der Art. 7 bis 15 dieser Verordnung ein anderer Mitgliedstaat als für den Antrag zuständiger Mitgliedstaat bestimmt wird. [...]
48 Zwar hat der Gerichtshof, wie die niederländische Regierung ausgeführt hat, in Rn. 72 des Urteils vom 23. Januar 2019, M.A. u. a. (C-661/17, EU:C:2019:53), im Wesentlichen entschieden, dass Art. 6 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung einen Mitgliedstaat, der nach den Kriterien in Kapitel III dieser Verordnung für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz nicht zuständig ist, nicht dazu verpflichtet, das Wohl des Kindes zu berücksichtigen und diesen Antrag in Anwendung von Art. 17 Abs. 1 dieser Verordnung selbst zu prüfen.
49 Aus diesem Urteil geht jedoch ebenfalls hervor, dass es einem Mitgliedstaat nicht verwehrt ist, einen solchen Antrag aus dem Grund zu prüfen, dass die Prüfung dem Wohl des Kindes dient. [...]
51 Im vorliegenden Fall geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass die Bestimmung des niederländischen Bürgerlichen Gesetzbuchs, nach der ein ungeborenes Kind als bereits geboren anzusehen ist, sofern sein Wohl dies erfordert, nach Ansicht des vorlegenden Gerichts die nationalen Behörden aufgrund der besonderen Bedeutung, die diese Bestimmung dem Wohl des Kindes beimisst, allein aus diesem Grund dazu verpflichtet, einen Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, der von einer zum Zeitpunkt der Antragstellung schwangeren Drittstaatsangehörigen gestellt wurde, auch wenn nach den Kriterien von Kapitel III der Dublin-III-Verordnung ein anderer Mitgliedstaat als für den Antrag zuständiger Mitgliedstaat bestimmt wird. [...]
54 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 17 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung dahin auszulegen ist, dass er dem nicht entgegensteht, dass die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats die zuständigen nationalen Behörden dazu verpflichten, einen Antrag auf internationalen Schutz einer zum Zeitpunkt der Antragstellung schwangeren Drittstaatsangehörigen allein aus Gründen des Wohls des Kindes zu prüfen, auch wenn nach den Kriterien der Art. 7 bis 15 dieser Verordnung ein anderer Mitgliedstaat als für den Antrag zuständiger Mitgliedstaat bestimmt wird. [...]
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zehnte Kammer) für Recht erkannt:
1. Art. 16 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, ist dahin auszulegen, dass er nicht anwendbar ist, wenn zwischen einer Person, die internationalen Schutz beantragt, und ihrem Ehegatten, der sich rechtmäßig in dem Mitgliedstaat aufhält, in dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, oder zwischen dem ungeborenen Kind des Antragstellers und dem Ehegatten, der auch der Vater des Kindes ist, ein Abhängigkeitsverhältnis besteht.
2. Art. 17 Abs. 1 der Verordnung Nr. 604/2013 ist dahin auszulegen, dass er dem nicht entgegensteht, dass die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats die zuständigen nationalen Behörden dazu verpflichten, einen Antrag auf internationalen Schutz einer zum Zeitpunkt der Antragstellung schwangeren Drittstaatsangehörigen allein aus Gründen des Wohls des Kindes zu prüfen, auch wenn nach den Kriterien der Art. 7 bis 15 dieser Verordnung ein anderer Mitgliedstaat als für den Antrag zuständiger Mitgliedstaat bestimmt wird. [...]