BVerwG

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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 16.02.2023 - 1 C 19.21 (Asylmagazin 6/2023, S. 223 f.) - asyl.net: M31314
https://www.asyl.net/rsdb/m31314
Leitsatz:

Voraussetzungen der Auswertung digitaler Datenträger durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge im Asylverfahren:

1. Das pauschale Auslesen von Handydaten ist rechtswidrig.

2. Die Auswertung digitaler Datenträger zur Ermittlung von Identität und Staatsangehörigkeit einer schutzsuchenden Person durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ist nicht zulässig, wenn andere Dokumente oder Erkenntnisse zur Identitätsklärung vorliegen.

(Leitsätze der Redaktion; Vorinstanz: VG Berlin, VG 9 K 135/20 A, Urteil vom 1. Juni 2021 - asyl.net: M29743; Anmerkung von Lea Beckmann und Matthias Lehnert zur Entscheidung des VG Berlin vom 1. Juni 2021, Asylmagazin 9-2021, S. 340ff. und Pressemitteilung der Gesellschaft für Freiheitsrechte vom 16. Februar 2023 zur aktuellen Entscheidung des BVerwG)

Anmerkung:

Schlagwörter: informationelles Selbstbestimmungsrecht, Auslesen, Auswertung, Datenträger, Mobiltelefon, Identitätsfeststellung, Identitätstäuschung, Asylverfahren, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Anordnung, Mitwirkungspflicht, Handydaten, Handydatenauswertung,
Normen: AsylG § 15a Abs. 1 Satz 1, AsylG § 15 Abs. 2 Nr. 6
Auszüge:

[...]

22 b) Ohne Verstoß gegen Bundesrecht hat das Verwaltungsgericht die Rechtswidrigkeit der Anordnung angenommen, weil die hierfür geltenden Voraussetzungen des § 15a Abs. 1 Satz 1 und 2 AsylG i. V. m. § 48 Abs. 3a Satz 3 AufenthG nicht erfüllt waren.

23 Danach hat der Ausländer dem nach § 15a Abs. 2 AsylG zuständigen Bundesamt die notwendigen Zugangsdaten für eine zulässige Auswertung von Datenträgern zur Verfügung zu stellen. Aus dem klaren Wortlaut von § 48 Abs. 3a Satz 3 AsylG ergibt sich, dass der Ausländer nur dann zur Offenbarung der Zugangsdaten verpflichtet ist, wenn die damit bezweckte Auswertung von Datenträgern zulässig ist. Schon bei der darauf gerichteten Anordnung müssen daher die Voraussetzungen für eine rechtmäßige Auswertung vorliegen.

24 aa) Die Auswertung von Datenträgern ist nach § 15a Abs. 1 Satz 1 AsylG nur zulässig, soweit dies für die Feststellung der Identität und Staatsangehörigkeit des Ausländers nach § 15 Abs. 2 Nr. 6 AsylG erforderlich ist und der Zweck der Maßnahme nicht durch mildere Mittel erreicht werden kann.

25 Der Begriff der Auswertung von Datenträgern nach § 15a Abs. 1 Satz 1 AsylG umfasst sämtliche Maßnahmen der die Klärung von Identität und Staatsangehörigkeit eines Ausländers bezweckenden Datenverarbeitung, die sich auf einen nach § 15 Abs. 2 Nr. 6 AsylG vorgelegten, ausgehändigten oder überlassenen Datenträger bezieht. Zur Auswertung gehören daher neben der Datenanalyse auch die vorangehenden Schritte der Datenverarbeitung wie das Auslesen des Datenträgers, die vorübergehende Speicherung der erlangten Daten sowie das automatisierte Generieren und die Speicherung des Ergebnisreports.

26 Dieses Verständnis ergibt sich bereits aus dem Wortlaut des § 15a Abs. 1 Satz 1 AsylG, der die Auswertung nicht nur von Daten, sondern von Datenträgern und damit alle hierauf bezogenen Maßnahmen der Auswertung zum Gegenstand hat. Dies erfasst schon das Auslesen der auf dem Datenträger befindlichen Daten, welches seinerseits eine Form der Datenverarbeitung im Sinne von Art. 4 Nr. 2 der Verordnung (EU) 2016/679 (Datenschutz-Grundverordnung) darstellt.

27 In systematischer Hinsicht folgt aus § 15a Abs. 1 Satz 2 AsylG i. V. m. § 48 Abs. 3a Satz 3 AufenthG, dass bereits zum Zeitpunkt der danach vorgesehenen Anordnung die Zulässigkeitsvoraussetzungen für die Datenauswertung vorliegen müssen. Eine Anordnung, die auf die Mitteilung der Zugangsdaten gerichtet ist, bezweckt indessen zunächst das mittels der Zugangsdaten ermöglichte Auslesen des Datenträgers, das Voraussetzung einer weiteren Verarbeitung der dadurch gewonnenen Daten ist. Das entspricht der Absicht des Gesetzgebers, mit § 48 Abs. 3a AufenthG eine Möglichkeit des Auslesens von Datenträgern eines Ausländers zu schaffen (vgl. BT-Drs. 18/4097, S. 2, 23 f.). § 15a Abs. 1 Satz 1 AsylG, der im Asylverfahren die näheren Vorgaben für eine solche Anordnung regelt, bezieht sich daher auf sämtliche Maßnahmen der auf den Zweck des § 15 Abs. 2 Nr. 6 AsylG gerichteten Datenverarbeitung, die sich an die Offenbarung der Zugangsdaten anschließen, und nicht nur auf eine Analyse der durch das Auslesen erlangten Daten.

28 Die Entstehungsgeschichte des § 15a AsylG und seine sich daraus ergebende Zwecksetzung sprechen ebenfalls für dieses Verständnis. Mit der Vorschrift sollte eine Möglichkeit zum Auslesen mobiler Datenträger auf der Grundlage einer Einzelfallentscheidung des Bundesamts geschaffen werden; die beim Auslesen für die Feststellung der Identität und Staatsangehörigkeit relevanten Daten sind nach dem Willen des Gesetzgebers einzeln zu bewerten (vgl. BT-Drs. 18/11546, S. 2, 15). Die rechtlichen Maßstäbe für die erforderliche Einzelfallentscheidung ergeben sich aus der eigens als einschlägige Rechtsgrundlage zur Ergänzung von § 15 Abs. 2 Nr. 6 AsylG geschaffenen Ermächtigung in § 15a Abs. 1 Satz 1 AsylG (vgl. BT-Drs. 18/11546, S. 23). Sofern der Erlass einer Anordnung nach § 15a Abs. 1 Satz 1 AsylG i. V. m. § 48 Abs. 3a Satz 3 AufenthG in Betracht kommt, ist die Einzelfallentscheidung – wie sich bereits aus der dargestellten Gesetzessystematik ergibt – bei der Prüfung der Voraussetzungen der genannten Normen zu treffen. [...]

32 Nach § 15a Abs. 1 Satz 1 AsylG setzt die Zulässigkeit der Auswertung außerdem voraus, dass der Zweck der Maßnahme nicht durch mildere Mittel erreicht werden kann. Im Ergebnis zutreffend ist das Verwaltungsgericht davon ausgegangen, dass ein Mittel dann milder als die Datenauswertung ist, wenn es zur Feststellung der Identität und Staatsangehörigkeit gleich geeignet ist, aber eine geringere Eingriffsintensität hinsichtlich der betroffenen Grundrechte aufweist. Das Verwaltungsgericht hat festgestellt, dass dem Bundesamt zum maßgeblichen Zeitpunkt mit der Tazkira, der Heiratsurkunde und der Bescheinigung der afghanischen Botschaft drei von der Klägerin selbst vorgelegte Unterlagen zur Verfügung standen. Ferner seien Registerabgleiche durchgeführt worden; zudem sei eine Nachfrage beim Sprachmittler nach Auffälligkeiten in Betracht gekommen. Hieraus hat das Verwaltungsgericht den Schluss gezogen, dass das Bundesamt zum Zeitpunkt der angegriffenen Anordnung über mehrere Mittel verfügte, die weniger stark in die Grundrechtspositionen der Klägerin aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG eingriffen als die Datenauswertung und deren vorrangige Würdigung unterblieben ist. Diese  entscheidungstragende Erwägung ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden, zumal die vorgelegten Unterlagen von der Klägerin nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts ohne eine darauf bezogene Anordnung herausgegeben wurden. [...]

35 b) Im Einklang mit Bundesrecht hat das Verwaltungsgericht festgestellt, dass das Bundesamt nicht berechtigt war, die Daten aus dem Mobiltelefon der Klägerin auszulesen und mittels einer Software auszuwerten, den hieraus generierten Ergebnisreport zu speichern sowie ihn für das Asylverfahren der Klägerin freizugeben und der Entscheidung über ihren Asylantrag zugrunde zu legen.

36 Die genannten Maßnahmen könnten eine Rechtsgrundlage allein in § 15a Abs. 1 Satz 1 AsylG finden, der – wie bereits dargelegt – die Voraussetzungen der auf die Feststellung der Identität und Staatsangehörigkeit eines Ausländers im Sinne des § 15 Abs. 2 Nr. 6 AsylG gerichteten Maßnahmen der Auswertung von Datenträgern regelt.

37 Nach § 15a Abs. 1 Satz 1 AsylG ist die Datenauswertung indessen nur zulässig, wenn der Zweck der Maßnahme – die Feststellung der Identität und Staatsangehörigkeit des Ausländers – nicht durch mildere Mittel erreicht werden kann. Dieses Ergebnis wird auch dadurch bestätigt, dass die vom Bundesamt bei der Auswertung des Mobiltelefons gewonnenen Erkenntnisse im weiteren Verfahren – soweit ersichtlich – nicht zur Klärung etwaiger Zweifel an der Identität und Staatsangehörigkeit der Klägerin herangezogen wurden.

38 Diese Voraussetzung lag hier im Zeitpunkt der am 15. Mai 2019 durchgeführten Maßnahmen (Auslesen des Mobiltelefons und softwaregestütztes Generieren eines Ergebnisreports) nicht vor, weil nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts mit den von der Klägerin selbst vorgelegten Unterlagen, den Registerabgleichen und der Möglichkeit der Befragung des Sprachmittlers mildere Mittel als die Datenauswertung zur Verfügung standen. Die Rechtswidrigkeit dieser Maßnahmen erstreckt sich – wie das Verwaltungsgericht zu Recht angenommen hat – auch auf die spätere Entscheidung, den gespeicherten Ergebnisreport für das Asylverfahren der Klägerin freizugeben und dem Entscheider damit zu gestatten, ihn bei der Entscheidung zu verwerten. [...]