OVG Rheinland-Pfalz

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Zitieren als:
OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 19.01.2023 - 13 A 10716/22.OVG - asyl.net: M31313
https://www.asyl.net/rsdb/m31313
Leitsatz:

Rechtswidrigkeit der Abschiebungsanordnung wirkt sich nicht auf Unzulässigkeitsentscheidung aus:

1. Erweist sich eine Abschiebungsanordnung gemäß § 34a Abs. 1 S. 1 AsylG als rechtswidrig, z.B. weil nicht feststeht, dass die Abschiebung durchgeführt werden kann, wirkt sich das nicht auf die Rechtmäßigkeit der Unzulässigkeitsentscheidung gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 Bst. a AsylG aus.

2. Der bloße Verweis auf eine von der angegriffenen Entscheidung abweichenden Entscheidung eines anderen Oberverwaltungsgerichts genügt nicht, um die grundsätzliche Bedeutung einer Tatsachenfrage (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) hinreichend darzulegen. Es bedarf der angemessenen Aufbereitung der Tatsachen und Erkenntnismittel, um die grundsätzliche Bedeutung darzulegen.

3. Die abgesenkten gesetzlichen Voraussetzungen einer Divergenz­berufung finden keine Anwendung, da es sich bei einem anderen Oberverwaltungsgericht nicht um ein divergenzfähiges Gericht handelt. Daran ändert auch der neu geschaffene § 78 Abs. 8 Satz 1 AsylG nichts, da diese Regelung erst dann zur Anwendung kommt, wenn das Oberverwaltungsgericht nach zugelassener Berufung im Berufungsverfahren entscheidet und hierbei die prozessuale Nebenentscheidung zur Zulassung der Tatsachenrevision zu treffen hat. Die Darlegungsanforderungen des § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG werden dadurch nicht berührt.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Dublinverfahren, Unzulässigkeit, Abschiebungsanordnung, Berufungszulassungsantrag, Divergenzrüge, Divergenzberufung, Berufung und Revision, Revisionsverfahren, Dublin III-Verordnung,
Normen: AsylG § 34a Abs. 1, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, VO 604/2013 Art. 18 Abs. 1, VO 604/2013 Art. 29 Abs. 1, AsylG § 78 Abs. 3 Nr. 1, AsylG § 78 Abs. 8 S. 1
Auszüge:

[...]

15 aa. Die als grundsätzlich bedeutsam erachtete Frage zu 1. beruht ausweislich der weiteren Antragsbegründung auf der Rechtsauffassung, dass eine Unzulässigkeitsentscheidung nach Maßgabe des § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a) AsylG keinen Bestand haben könne, wenn die Überstellung undurchführbar sei. In diesen Fällen müsse es zu einem Zuständigkeitsübergang auf die Beklagte kommen, um die Situation eines – dauerhaft – der materiell-rechtlichen Entscheidung über seinen Asylantrag entzogenen Schutzsuchenden (sog. refugees in orbit) zu verhindern. Dies würde dem zentralen Anliegen des Dublin-Regimes zuwiderlaufen, einen effektiven Zugang zum Asylverfahren zu gewährleisten. Sofern die Abschiebungsanordnung aufgehoben werde, könne dieser Situation nur durch die gleichzeitige Aufhebung der Unzulässigkeitsentscheidung begegnet werden (vgl. S. 2 d. Antragsschrift).

16 Mit dieser Hypothese und ihrer Begründung zeigt die Antragsschrift indessen keinen weiteren Klärungsbedarf auf, denn sie lässt sich ohne weiteres anhand des Gesetzes, respektive der Richtlinie 2013/32/EU und vor allem der Dublin III-VO, widerlegen (so auch OVG RP, Beschluss vom 5. September 2022 – 13 A 10331/22.OVG –, n.v.). [...]

17 (1) Der Wortlaut des § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a) AsylG spricht zunächst ausnahmslos davon, dass ein Asylantrag unzulässig ist, wenn ein anderer Staat nach Maßgabe der Dublin III-VO für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. In diesen Fällen ordnet § 34a Abs. 1 AsylG den Erlass einer Abschiebungsanordnung in den zuständigen Mitgliedsstaat an (vgl. Art. 18 Abs. 1 und 29 Abs. 1 Dublin III-VO). Weder den genannten Vorschriften noch dem übrigen AsylG – oder sonst dem nationalen Recht – lässt sich indessen entnehmen, dass die Unzulässigkeitsentscheidung entgegen dieses eindeutigen Wortlauts bereits dann aufzuheben wäre, wenn die Abschiebungsanordnung – hier aufgrund des Bestehens eines innerstaatlichen Vollstreckungshindernisses – aufgehoben wurde. Im Gegenteil spricht bereits die Regelung in § 34a Abs. 1 Satz 4 AsylG, wonach anstelle einer Abschiebungsanordnung eine Abschiebungsandrohung (vgl. § 34 AsylG) ergehen soll, wenn erstere nicht ergehen kann, aus Sicht des nationalen Rechts dafür, dass die mit dem Zulassungsantrag zu 1. formulierte Hypothese falsch ist. Denn auch der Erlass einer Abschiebungsandrohung setzt nach Wortlaut und Systematik des § 34a Abs. 1 Satz 4 i.V.m. Satz 1 oder Satz 2 AsylG das (Weiter-)Bestehen einer Unzulässigkeitsentscheidung gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a) AsylG voraus. [:::]

19 Der Antragsschrift ist allein zuzugeben, dass die Dublin III-VO mit der Regelung der Zuständigkeiten zur Entscheidung über die in ihrem Geltungsbereich gestellten Asylanträge gerade auch die vorbeschriebene Situation eines refugee in orbit vermeiden will (vgl. hierzu nur die Vorbemerkung (5) der Dublin III-VO und EuGH, Urteil vom 26. Juli 2017 – C-670/16 –, juris Rn. 73). Der Antrag auf Zulassung der Berufung übersieht indessen, dass der europäische Verordnungsgeber diesen Verordnungszweck in systematischer Hinsicht ausschließlich einem strengen Fristenregime überantwortet hat, das zudem durch eine eigens geschaffene EDV-Infrastruktur, die sog. EURODAC-Datenbank (vgl. hierzu die Verordnung (EU) Nr. 603/2013), komplementiert wird. Allein dieses engmaschige System aus "Anfragefristen" (vgl. etwa Art. 21 Abs. 1 UA 1, 2 und Art. 23 Abs. 2, 3 Dublin III-VO), "Antwortfristen" (vgl. Art. 22 Abs. 1, 6, 7 und Art. 25 Dublin III-VO) und "Überstellungsfristen" (vgl. Art. 29 Abs. 1, 2 Dublin III-VO), deren Ablauf jeweils zu einem Zuständigkeitsübergang auf den anfragenden – bzw. ersuchten – Mitgliedsstaat führt, soll eine rasche Überstellung des Schutzsuchenden in den für ihn zuständigen Unionsstaat und damit zugleich eine schnellstmögliche Entscheidung über sein materielles Schutzbegehren ermöglichen. [...]

36 (d) Schließlich erfolgt auch anhand der allein verbleibenden Zitation einer von der angegriffenen Entscheidung abweichenden Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen (s.o.) keine hinreichende Darlegung der gesehenen Klärungsbedürftigkeit. Sofern – wie hier – eine Tatsachenfrage zur grundsätzlichen Klärung durch den Senat gestellt wird, macht ein bloßer Verweis auf eine von der angegriffenen Entscheidung abweichende Rechtsprechung eines anderen Oberverwaltungsgerichts eine detaillierte Darlegung der Grundsatzbedeutung nämlich nicht entbehrlich, da ansonsten die Voraussetzungen einer Divergenzberufung (§ 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG) umgangen würden. Im Einzelnen:

37 Der Zulassungsgrund der Divergenz stellt seinerseits einen Sonderfall der Grundsatzbedeutung unter erleichterten Voraussetzungen dar (vgl. nur BVerwG, Urteil vom 31. Juli 1984 – 9 C 46.84 –, juris Rn. 18 und Happ, in: Eyermann [Hrsg.], VwGO, 16. Aufl. 2022, § 124 Rn. 41). Er hat zum Ziel, eine möglichst rasche – und ggf. erneute – Klärung der divergierenden Meinungen durch die hierzu berufenen Gerichte herbeizuführen. Kommt dieser Zulassungsgrund – wie hier – nicht in Frage, weil das im Zulassungsantrag herangezogene Oberverwaltungsgericht kein divergenzfähiges Gericht ist, können die gesenkten Darlegungsanforderungen der Divergenzzulassung (vgl. etwa BayVGH, Beschluss vom 8. Dezember 2021 – 15 ZB 21.31689 –, juris Rn. 26 m.w.N. und Rudisile, in: Schoch/Schneider [Hrsg.], Verwaltungsrecht, Stand: Februar 2022, § 124 VwGO Rn. 36 ff. m.w.N.) nicht auf die Darlegungsanforderungen einer allgemeinen Grundsatzbedeutung übertragen werden. Auch die analoge Anwendung des § 78 Abs. 3 Nr. 2 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – scheidet aus, da weder eine entsprechende Regelungslücke noch deren eventuelle Planwidrigkeit ersichtlich ist.

38 Weicht ein nicht divergenzfähiges Oberverwaltungsgericht in einer revisiblen Rechtsfrage von der angegriffenen Entscheidung ab, ist die Berufung trotzdem regelmäßig zuzulassen, da mit den entsprechenden Divergenzdarlegungen in diesem Fall auch typischerweise die Anforderungen zur Darlegung der allgemeinen Grundsatzbedeutung erreicht werden.

39 Betrifft die Abweichung indessen – und so auch hier – eine reine Tatsachenfrage, kommt eine weitere Vereinheitlichung der Rechtsprechung durch das Bundesverwaltungsgericht nur unter den restriktiven Voraussetzungen des § 78 Abs. 8 Satz 1 AsylG in der seit 1. Januar 2023 geltenden Fassung in Frage. Hiernach steht den Beteiligten die Revision an das Bundesverwaltungsgericht abweichend von § 132 Abs. 1 und § 137 Abs. 1 VwGO auch zu, wenn das Oberverwaltungsgericht in der Beurteilung der allgemeinen asyl-, abschiebungs- oder überstellungsrelevanten Lage in einem Herkunfts- oder Zielstaat von deren Beurteilung durch ein anderes Oberverwaltungsgericht oder durch das Bundesverwaltungsgericht abweicht und die Revision deswegen zugelassen hat (sog. "Tatsachenrevision").

40 Obschon der Gesetzgeber mit der Schaffung der Tatsachenrevision grundsätzlich eine Vereinheitlichung der Rechtsprechung mittels einer höchstrichterlichen Tatsachenwürdigungskompetenz bei allgemeinen asyl-, abschiebungs- oder überstellungsrelevanten Tatsachen erreichen wollte (vgl. BT-Drucks. 20/4327, S. 43), schränkte er den Zugang zur Tatsachenrevision ausweislich des Wortlauts der Norm durch zwei notwendige Bedingungen ein. Das Oberverwaltungsgericht muss erstens in seiner Berufungsentscheidung selbst von der Lagebeurteilung eines anderen Oberverwaltungsgerichts oder des Bundesverwaltungsgerichts abweichen und es muss die Revision zweitens gerade deswegen zulassen. Er unterwirft die Herbeiführung einer grundsätzlichen Klärung der asyl- und abschiebungsrelevanten Tatsachen durch das Bundesverwaltungsgericht also letztlich allein der pflichtgemäßen Beurteilung durch die Oberverwaltungsgerichte, was sich im Umkehrschluss auch daraus ergibt, dass eine etwaige Nichtzulassungsbeschwerde gemäß § 78 Abs. 8 Satz 2 AsylG nicht auf diesen Zulassungsgrund gestützt werden kann (vgl. BT-Drucks. 20/4327, S. 16).

41 Der Maßstab des § 78 Abs. 8 Satz 1 AsylG gelangt demzufolge auch erst dann zur Anwendung, wenn das Oberverwaltungsgericht nach zugelassener Berufung im Berufungsverfahren entscheidet und hierbei die  prozessuale Nebenentscheidung zur Zulassung der Tatsachenrevision zu treffen hat. Er modifiziert indessen nicht bereits die Darlegungsanforderungen des § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG. [...]