VG Stuttgart

Merkliste
Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 12.01.2022 - A 11 K 4437/19 - asyl.net: M31300
https://www.asyl.net/rsdb/m31300
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für lesbische Person aus dem Iran:

Homosexuelle Personen bilden im Iran eine bestimmte soziale Gruppe und ihnen droht aufgrund dieser Zugehörigkeit Verfolgung.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Iran, homosexuell, legale Ausreise, LSBTI, soziale Gruppe, lesbisch,
Normen: AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4, AsylG § 3a Abs. 1 Nr. 1
Auszüge:

[...]

Die Klägerin hat zur vollen Überzeugung des Gerichts glaubhaft gemacht, dass sie homosexuell ist. Die Klägerin machte einen aufrichtigen und authentischen Eindruck auf den Berichterstatter; in keiner Weise wirken ihre Aussagen asyltaktisch motiviert. Sie schilderte dem Gericht umfassend, detailreich und ohne ihre Emotionen zu verbergen, wie sie als Jugendliche und Heranwachsende innere Konflikte in einem Land austrug, in dem nicht nur Homosexualität, sondern Gespräche über Sexualität allgemein tabuisiert sind. Ihr Vortrag ist in Anbetracht der dem Gericht vorliegenden Erkenntnisse über den gesellschaftlichen und innerfamiliären Umgang mit homosexuellen Menschen im Iran plausibel: Allgemein akzeptiert die iranische Gesellschaft lesbische Frauen nicht (vgl. United Kingdom Home Office, Country Policy and Information Note lran: Sexual orientation and gender identity or expression, Juni 2019, S. 8, mehr dazu unten). Eine beträchtliche Anzahl von Lesben, Schwulen und Transgendern berichtet, dass sie aufgrund ihrer sexuellen Orientierung und Geschlechtsidentität verschiedenen Formen von Missbrauch durch ihre Familienmitglieder ausgesetzt waren. Dazu gehörten Schläge und Auspeitschungen sowie Formen des psychischen Missbrauchs wie erzwungene Isolation von Freunden und der Gesellschaft, Vernachlässigung und Verlassenwerden, verbale Beleidigungen und Todesdrohungen (United Kingdom, Home Office, Country Policy and Information Note Iran: Sexual orientation and gender identity or expression, Juni 2019, S. 25). [...]

Homosexualität und homosexuelle Beziehungen sind im Iran strafbar. Aus Angst vor strafrechtlicher Verfolgung und sozialer Ausgrenzung ist ein öffentliches "Coming out" deshalb grundsätzlich nicht möglich (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Iran vom 5. Februar 2021, S. 18).

Angehörige sexueller Minderheiten können im Iran Belästigungen und Diskriminierungen ausgesetzt sein, obwohl über das Problem aufgrund der Kriminalisierung und Verborgenheit dieser Gruppen nicht ausreichend berichtet wird. Verboten ist in Iran jede sexuelle Beziehung, die außerhalb der heterosexuellen Ehe stattfindet, also auch homosexuelle Beziehungen, unabhängig von der Religionsangehörigkeit. Auf homosexuelle Handlungen, welche auch als "Verbrechen gegen Gott" gelten, stehen offiziell Auspeitschung und sie können mit der Todesstrafe bestraft werden (dies besagen diverse Fatwas, die von beinahe allen iranischen Klerikern ausgesprochen wurden). Die Beweisanforderungen sind allerdings sehr hoch, man braucht vier männliche Zeugen, es gibt ein Ermittlungsverbot bei Fällen, in denen zu wenige Zeugenaussagen vorliegen und hohe Strafen für Falschbeschuldigungen. Bei Minderjährigen und in weniger schwerwiegenden Fällen sind Peitschenhieb vorgesehen. Auch hierfür sind zwei männliche Zeugen erforderlich. Im Falle von "Lavat" (Sodomie unter Männern) ist die vorgesehene Bestrafung die Todesstrafe für den "passiven" Partner, falls der Geschlechtsverkehr einvernehmlich stattfand, ansonsten für den Vergewaltiger. Auf "Mosahegheh" (Lesbianismus) stehen 100 Peitschenhiebe. Nach vier Wiederholungen kann aber auch hier die Todesstrafe verhängt werden. Die Bestrafung von gleichgeschlechtlichen Handlungen zwischen Männer ist meist schwerwiegender als die für Frauen. Gleichfalls ist Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung nicht verboten. Die Todesstrafe für Homosexualität wurde in den letzten Jahren nur punktuell und meist in Verbindung mit anderen Verbrechen verhängt. Da Homosexualität offiziell als Krankheit gilt, werden Homosexuelle vom Militärdienst befreit und können keine Beamtenfunktionen ausüben. Auch werden Missbräuche durch die Gesellschaft oft nicht angezeigt, was Mitglieder sexueller Minderheiten noch anfälliger für Menschenrechtsverletzungen macht (Österreichisches Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 29. Januar 2021, S. 68 f.).

Die Sicherheitsbehörden belästigen und inhaftieren Personen, die sie der Homosexualität verdächtigen. In einigen Fällen wurden Häuser durchsucht und auch der Internetverkehr wird überwacht, um Informationen über homosexuelle Personen zu ermitteln. Menschen, die unter diesen Bedingungen verhaftet werden, sind üblicherweise erzwungenen analen oder sonstigen Untersuchungen auf homosexuellen Geschlechtsverkehr ausgesetzt, die von den Vereinten Nationen und der Weltgesundheitsorganisation als Folter, erniedrigende Behandlung oder sexuelle Erniedrigung bezeichnet werden (U.S. Department of State, Country Report on Human Rights Practices 2020 - Iran, vom 30. März 2021, abrufbar unter www.ecoi.net/de/dokument/2048099.html - Stand 9. September 2021). [...]