VG Münster

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Zitieren als:
VG Münster, Gerichtsbescheid vom 18.12.2022 - 8 K 1005/22.A - asyl.net: M31273
https://www.asyl.net/rsdb/m31273
Leitsatz:

Mögliche Art. 3 EMRK-Verletzung wegen fehlender Möglichkeit der Existenzsicherung für palästinensische Familie bei Rückkehr in den Libanon:

Aufgrund der individuellen Umstände der Kläger*innen (hier: sechsköpfige Familie mit vier minderjährigen Kindern) besteht die Möglichkeit einer Verletzung von Art. 3 EMRK bei Rückkehr in den Libanon trotz Unterstützung durch UNRWA und weiterer Familienangehöriger, weil das absolute Existenzminimum nicht sichergestellt werden könnte.

(Leitsätze der Redaktion; anderer Ansicht: VG Berlin, Urteil vom 14.03.2022 - 34 K 422.18 A - asyl.net: M30670)

Schlagwörter: Libanon, Palästinenser, Existenzminimum, UNRWA, Asylfolgeantrag, Familie, Kinder, besonders schutzbedürftig,
Normen: EMRK Art. 3, AsylG § 3 Abs. 1 i.V.m. Abs. 3 Satz 2, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 5, AsylG 71, VwVfG 51, RL 2011/95/EU Art 12 Abs. 1 Bst. a
Auszüge:

[...]

Auf der Grundlage dieser Maßstäbe könnte den Klägern eine Verletzung von Art. 3 EMRK bei einer Rückkehr in den Libanon dadurch drohen, dass die Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die sechsköpfige Familie nicht im Sinne des absoluten Existenzminimums werden ernähren können. Das Gericht geht aufgrund der individuellen Umstände der Kläger sowie auf der Grundlage der aktuell vorliegenden Erkenntnismittel von der Möglichkeit aus, dass die Familie nach einer Rückkehr in ein Flüchtlingslager gegebenenfalls auch mit Unterstützung der UNRWA und weiterer Familienangehöriger nicht in der Lage sein könnte, ihr Existenzminimum zu sichern.

In den palästinensischen Flüchtlingslagern im Libanon herrschen prekäre Lebensbedingungen. Die Verhältnisse in den Flüchtlingslagern sind geprägt von Armut, Arbeitslosigkeit, teilweise desaströsen Wohnverhältnissen, fehlender Infrastruktur und Überbelegung (Auswärtiges Amt, Lagebericht Libanon, vom 5. Dezember 2022, S. 12 f.; BfA, Länderinformationsblatt Libanon, Stand: 31. Oktober 2021, S. 55 f.). Alle Lager sind massiv von den Hilfeleistungen der chronisch unterfinanzierten UNRWA abhängig [...].

Die anhaltende Versorgungskrise im gesamten Libanon führte allerdings zu einer weiteren Verschärfung der Situation. [...]

Der Krieg in der Ukraine hat die Lebensmittelknappheit im Libanon noch einmal deutlich verschärft. [...]

Davon sind auch das UNRWA und die von dessen Leistungen abhängigen palästinensischen Flüchtlinge im Libanon betroffen [...]. Nach einer Umfrage des UNRWA im Juli 2021 haben 58 % bzw. 56 % der palästinensischen Familien im Libanon die Zahl oder den Umfang ihrer Mahlzeiten reduziert. Ein Viertel der erwachsenen Familienangehörigen hat zugunsten der Kinder weniger gegessen (UNRWA, Palestine Refugees in Lebanon: Struggling to Survive, 18. Januar 2022).

Bei dieser Sachlage geht das Gericht davon aus, dass die Kläger bei einer Rückkehr in den Libanon als insgesamt sechsköpfige Kernfamilie nicht in der Lage sein könnten, das absolute Existenzminimum hinsichtlich der Versorgung mit Lebensmitteln und Trinkwasser zu sichern. [...]

Auch unter Berücksichtigung der den Klägern zustehenden Unterstützungsleistungen des UNRWA könnte ggf. vor diesem Hintergrund eine ausreichende Versorgung im Umfang des absoluten Existenzminimums nicht gesichert sein. Etwas Anderes folgt auch nicht unter Berücksichtigung des Umstandes, dass die Familie über Verwandte verfügt, welche zum Teil in Deutschland, zum Teil im Libanon leben. [...]

Die staatlichen Unterstützungsleistungen im Rahmen des GARP/REAP Programms der Bundesregierung können eine zwar Überbrückungshilfe darstellen und die finanzielle Grundversorgung anfangs sichern. Sie können aber insbesondere angesichts des inflationsbedingt extrem hohen Preisniveaus nicht als alleinige und dauerhafte Lebensgrundlage dienen. Über nennenswertes eigenes Vermögen verfügen die Kläger nicht. [...]