Elternnachzug zu minderjährigem, subsidiär Schutzberechtigten wegen außergewöhnlicher Härte:
"1. Maßgeblich für die Bestimmung der Minderjährigkeit beim Elternnachzug zu minderjährigen subsidiär Schutzberechtigten (§ 36a Abs. 1 S. 2 AufenthG) ist der Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (Fortführung der Rechtsprechung) (Rn. 19).
2. Bei der Bestimmung der außergewöhnlichen Härte i.S.d. § 36 Abs. 2 AufenthG ist kompensatorisch zu berücksichtigen, ob sich ansonsten der temporäre Ausschluss des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten (§ 104 Abs. 13 AufenthG a.F.) wegen der zwischenzeitlichen Volljährigkeit der minderjährigen Familienmitglieder als endgültiger Ausschluss erweisen würde (Rn. 30)."
(Amtliche Leitsätze)
[...]
19 Maßgeblich für die Bestimmung der Minderjährigkeit beim Elternnachzug zu minderjährigen subsidiär Schutzberechtigten nach § 36a Abs. 1 S. 2 AufenthG ist der Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts, d.h. weder der Zeitpunkt des Schutzersuchen des Kindes noch der Zeitpunkt des Visumsantrags der den Nachzug begehrenden Eltern. [...]
20 Die Maßgeblichkeit des Zeitpunkts der Entscheidung des Gerichts ergibt sich aus den allgemeinen Grundsätzen des Prozessrechts. Danach ist maßgebend für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage bei Verpflichtungsklagen auf Erteilung eines Aufenthaltstitels grundsätzlich der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung in der Tatsacheninstanz (vgl. BVerwG, Urteile vom 7. April 2009 – BVerwG 1 C 17.08 –, BVerwGE 133, 329, juris Rn. 10; und vom 18. April 2013 – BVerwG 10 C 9.12 –, BVerwGE 146, 189, juris Rn. 11, 18). Eine Abweichung von diesem Grundsatz ergibt sich weder aus der Auslegung des § 36a Abs. 1 S. 2 AufenthG noch aus anderen Gründen (dazu ausführlich OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 22. September 2020 – OVG 3 B 38.19 –, juris Rn. 14; VG Berlin, Urteil vom 21. Januar 2020 – VG 38 K 429.19 V –, Asylmagazin 2020, 239, juris Rn. 20ff.; je m.w.N.).
21 Insbesondere steht die Beschränkung des Elternnachzugs auf eine Einreise bis zum Zeitpunkt der Volljährigkeit des subsidiär Schutzberechtigten im Einklang mit den unionsrechtlichen Vorgaben durch ausländer- und asylrechtliche Richtlinien (siehe OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 22. September 2020 – OVG 3 B 38.19 –, juris Rn. 18). Die Mitgliedstaaten sind zwar durch Art. 10 Abs. 3 lit. a) Familienzusammenführungs-RL 2003/86/EG verpflichtet, die Familienzusammenführung der Eltern mit einem Minderjährigen, dem die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde, unter gewissen Voraussetzungen auch nach dessen Volljährigkeit zu ermöglichen (EuGH, Urteile vom 1. August 2022 – C-273/20 u.a. –, juris; und vom 12. April 2018 – C-550/16 –, NVwZ 2018, 1463; siehe auch OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 22. Mai 2019 – OVG 3 B 1.19 –, juris Rn. 28). Die Familienzusammenführungs-RL 2003/86/EG gilt aber nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs gerade nicht für die Familienzusammenführung mit (lediglich) subsidiär Schutzberechtigten (EuGH, Urteile vom 7. November 2018 – C-380/17 –, juris Rn. 25-33; vom 13. März 2019 – C-635/17 –, juris Rn. 33f.). Diese alle Mitgliedstaaten bindende Auslegung des Unionsrechts ist bei der Auslegung und Anwendung des Aufenthaltsgesetzes zu berücksichtigen (siehe OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 22. Mai 2019 – OVG 3 B 1.19 –, juris Rn. 29). [...]
22 Der Maßgeblichkeit des Zeitpunkts der mündlichen Verhandlung stehen auch der allgemeine Gleichbehandlungsgrundsatz nach Art. 3 Abs. 1 GG sowie die Gleichbehandlungsgebote, die aus Art. 14 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und der Grundrechtecharta folgen, nicht entgegen. Die Privilegierung des Familiennachzugs zu anerkannten Flüchtlingen im Gegensatz zu subsidiär Schutzberechtigten rechtfertigt sich aus den dargestellten unterschiedlichen unionsrechtlich bedingten Verpflichtungen Deutschlands. [...]
23 Auch das Gebot effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG) gebietet kein anderes Verständnis. Denn den Betroffenen steht grundsätzlich die Möglichkeit offen, während der Minderjährigkeit des Kindes ihr Nachzugsbegehren mithilfe einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO rechtzeitig vor Erreichen der Volljährigkeit durchzusetzen (ausführlich und m.w.N. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 22. September 2020 – OVG 3 B 38.19 –, juris Rn. 27; VG Berlin, Urteil vom 21. Januar 2020 – VG 38 K 429.19 V –, Asylmagazin 2020, 239, juris Rn. 29; sowie insbesondere VG Berlin, Beschlüsse vom 26. November 2019 – VG 38 L 442.19 V –, vom 27. Dezember 2019 – VG 38 K 375.19 V –, vom 8. Januar 2020 – VG 38 L 106/20 V –, und vom 16. Januar 2020 – VG 38 L 502.19 V –; alle juris; sowie Beschluss vom 20. Dezember 2021 – VG 38 L 852/21 V –). [...]
24 2. Ein Anspruch auf Nachzug der Klägerin zu 1.) besteht indes auf der Grundlage von § 6 Abs. 3 in Verbindung mit § 36 Abs. 2 S. 1 AufenthG bzw. in Verbindung mit § 28 Abs. 4 i.V.m. § 36 Abs. 2 S. 1 AufenthG. [...]
26 a) Die besondere Tatbestandsvoraussetzung der außergewöhnlichen Härte (§ 36 Abs. 2 S. 1 AufenthG) ist erfüllt.
27 Das Merkmal der außergewöhnlichen Härte stellt dabei die höchste tatbestandliche Hürde dar, die der Gesetzgeber aufstellen kann (OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 15. Oktober 2014 – OVG 6 B 1.14 –, juris Rn. 11; sowie Beschluss vom 18. Dezember 2019 – OVG 11 N 59.19 –, juris Rn. 11). Daher müssen die Besonderheiten des Einzelfalls nach Art und Schwere so ungewöhnlich und groß sein, dass die Folgen der Visumsversagung unter Berücksichtigung des Zwecks der Nachzugsvorschriften (Herstellung und Wahrung der Familieneinheit) schlechthin unvertretbar sind. [...]
30 Dabei ist zu berücksichtigen, dass zum Zeitpunkt der Schutzgewähr und erstmaligen Aufenthaltserlaubniserteilung an den jüngeren Sohn der Klägerin zu 1.) am 20. Dezember 2017 der Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten seit März 2016 ausgesetzt war (§ 104 Abs. 13 AufenthG in der Fassung vom 11. März 2016) und der Elternnachzug daher zu diesem Zeitpunkt trotz der damaligen Minderjährigkeit des Stammberechtigten nicht möglich war. Kurz nachdem der Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten am 1. August 2018 wieder möglich geworden war, zeigten die Klägerinnen ihren Nachzugswunsch an und beantragten Visa zum Familiennachzug. Der Gesetzgeber hat von der Statuierung einer Übergangsregelung für während der Aussetzung volljährig gewordene Kinder abgesehen, so dass sich die als bloßes "Moratorium" angekündigte Regelung in bestimmten Konstellationen – wie der vorliegenden – als Ausschluss erweist. Nach Ansicht der Kammer führt dies zwar nicht zu einer Verschiebung des Zeitpunkts zur Bestimmung der Minderjährigkeit (s.o.), wohl aber zu einer kompensatorischen Berücksichtigung bei der Bestimmung des Härtefalls. Die Regelung des § 36 Abs. 2 S. 1 AufenthG dient auch gerade dazu, verfassungsrechtliche Schutzlücken, die bei der Anwendung vorrangiger Anspruchsnormen entstehen, zu schließen (siehe zum Verhältnis von § 36 Abs. 1 und § 36 Abs. 2 S. 1 AufenthG OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 5. Dezember 2018 – OVG 3 B 8.18 –, juris Rn. 25).
31 Vor diesem Hintergrund wäre es mit dem verfassungs- und konventionsrechtlich geschützten Recht auf Familie unvereinbar, die Klägerin zu 1.) und ihre Söhne sowie deren (Schwieger-) Familie nicht zusammen leben zu lassen. Vorrangig schützt Art. 6 Abs. 1 GG dabei zwar die Familie als tatsächliche Lebens- und Erziehungsgemeinschaft minderjähriger Kinder mit ihren Eltern. Es kann aber nicht angenommen werden, dass jegliche familiäre Bindung zwischen einem Elternteil und seinem Kind sofort wegfällt, sobald das minderjährige Kind volljährig wird (in dieser Zuspitzung EuGH, Urteil vom 1. August 2022 – C-273/20 –, juris Rn. 64). Intensive Familienbindungen treten schließlich nicht nur im Verhältnis zwischen (heranwachsenden) Kindern und Eltern auf, sondern auch zwischen anderen Familienmitgliedern. Besondere Zuneigung und Nähe, familiäre Verantwortlichkeit füreinander, Rücksichtnahme- und Beistandsbereitschaft können auch in anderen Beziehungen zum Tragen kommen, wenn diese von besonderer Nähe und Zuneigung, von Verantwortungsbewusstsein und Beistandsbereitschaft geprägt sind (BVerfG, Beschluss vom 24. Juni 2014 – 1 BvR 2926/13 –, BVerfGE 136, 382 Rn. 22f. m.w.N.). [...]
33 Die Beziehung des jüngeren Sohnes zu seiner Mutter, der Klägerin zu 1.), geht in ihrer Intensität und Tiefe über die dem Gericht (und den Verfahrensbeteiligten) aus einer Vielzahl anderer Visaverfahren bekannten Mutter-Sohn-Beziehungen hinaus. In der mündlichen Verhandlung vor der erkennenden Einzelrichterin zeigte er sich gut über die Belange seiner Mutter (und seiner Schwestern) informiert, dies ist auch dem Protokoll über die mündliche Verhandlung über seine Aufstockungsklage zu entnehmen (Verhandlung vom 27. April 2020, Protokoll, S. 2). Seine besondere Sorge um diese wurde indes nicht nur in den mündlichen Verhandlungen am 27. April 2020 und 29. September 2021, sondern auch zuvor bei anderen Gelegenheiten offenkundig (beispielsweise in der Anhörung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Bundesamt] am 12. April 2017). Diese besondere Verbundenheit wurde auch von seiner Mutter im IOM-Gespräch am 10. September 2018 bekundet sowie von seinem damaligen Vormund bestätigt (S. 6 des Anhörungsprotokolls). Der andere Sohn der Klägerin zu 1.) und dessen Ehefrau zeigen ihre besondere Verbindung in tätiger Weise, indem sie zur Aufnahme der Klägerin zu 1.) (und einer weiteren Klägerin) bereit sind.
34 Die ebenfalls herauszuhebende Unterstützungsbereitschaft der Schwiegerfamilie für die Klägerin zu 1.) umfasst sowohl finanzielle Unterstützung (Aufnahme zweier Töchter in die gemeinsame Wohnung, Finanzierung des Prozesses) als auch ideelle Unterstützung (Beistand für die Söhne der Klägerin in der mündlichen Verhandlung). Das gleiche gilt für das Verhältnis der Klägerin zu 1.) zu ihrem Vater, der diese bereits jetzt in Syrien finanziell unterstützt.
35 Die (groß-) familiäre Lebensgemeinschaft kann dabei nicht in Syrien, sondern nur in Deutschland gelebt werden. Die Schwiegertochter der Klägerin zu 1.) und ihre Eltern sind deutsche Staatsangehörige. Den Söhnen der Klägerin zu 1.) und wohl auch ihrem Vater hat das Bundesamt aufgrund der Lage in Syrien subsidiären Schutz zuerkannt.
38 Des Weiteren ist zwar der Lebensunterhalt der Klägerin zu 1.) nicht gesichert (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG), es liegt aber ein Ausnahmefall nach § 5 Abs. 1 AufenthG vor, der ein Absehen von dem Regelerfordernis der Sicherung des Lebensunterhalts gebietet. Von einem solchen ist bei besonderen, atypischen Umständen auszugehen, die so bedeutsam sind, dass sie das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regelung beseitigen, oder wenn höherrangiges Rechts wie etwa Art. 6 GG oder Art. 8 EMRK die Erteilung eines Aufenthaltstitels zum Familiennachzug gebieten (BVerwG, Urteil vom 26. August 2008 – BVerwG 1 C 32.07 –, BVerwGE 131, 370, Rn. 27). So liegt der Fall hier. Zu den oben dargelegten Gründen, die zu der Annahme einer außergewöhnlichen Härte führen und die bereits die Annahme eines Ausnahmefalls begründen könnten, kommen die weiteren Umstände des vorliegenden Falles. Jedenfalls zusammen überwiegen sie in der erforderlichen Gesamtbetrachtung das Gewicht des der Regelung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG zugrunde liegenden staatlichen Interesses, neue Belastungen für die öffentlichen Haushalte durch Zuwanderung zu vermeiden. Die Klägerin zu 1.) hat durch die Vorlage eines Entwurfs eines Arbeitsvertrages über eine Teilzeitstelle gezeigt, dass ihr an einer wirtschaftlichen Integration in Deutschland gelegen ist. Dies wird ihr in der Schwiegerfamilie auch vorgelebt, beispielsweise arbeitet die Mutter ihrer Schwiegertochter für das Land Berlin (...), ihr Ehemann für .... [...]