VG München

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Zitieren als:
VG München, Urteil vom 21.06.2022 - M 13 K 21.30776 - asyl.net: M31262
https://www.asyl.net/rsdb/m31262
Leitsatz:

Subsidiärer Schutz für Opfer von Menschenhandel aus Nigeria:

Einer Person, die Opfer von Menschenhandel geworden ist, droht bei Rückkehr nach Nigeria unmenschliche oder erniedrigende Behandlung durch ihre Menschenhändler*innen, gegen die der nigerianische Staat keinen Schutz bieten kann.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Nigeria, Zwangsprostitution, interne Fluchtalternative, Schutzfähigkeit, nichtstaatliche Verfolgung, Menschenhandel,
Normen: AsylG § 4
Auszüge:

[...]

Die Kläger dringen jedoch mit dem hilfsweise geltend gemachten Anspruch nach § 4 Abs. 1 AsylG auf Zuerkennung des subsidiären Schutzes durch, da ihnen ein ernsthafter Schaden in Form einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung durch die Menschenhändlerin droht (a.), ohne dass den Klägern in Nigeria ein hinreichender staatlicher (b.) oder zumutbarer interner (c.) Schutz zur Verfügung steht. Ein Ausschlussgrund nach § 4 Abs. 2 AsylG ist nicht ersichtlich. [...]

Zur Anwerbung von Menschenhandelsopfern bedienen sich Schlepper verschiedener Methoden, wobei Gewalt jedoch nur selten angewendet wird [...]. Dennoch greifen Menschenhändler nach einem Bericht der Nichtregierungsorganisation ECTAP France - neben traditionellen Ritualen - zur Anwerbung sowohl in Nigeria als auch in Europa teils auf exzessive Gewalt zurück, wie etwa körperlicher Misshandlung und Vergewaltigung [...]. Für Menschen, die bereits einmal Opfer von Menschenhandel geworden sind, besteht die - allerdings schwer zu beurteilende - Gefahr, nochmals Menschenhändlern in die Hände zu fallen (sog. Re-Trafficking) [...]. Zwar gibt es nach den Erkenntnissen kein klares Bild, in welchem Umfang Rückkehrer Repressalien ausgesetzt sind. Verschiedene Quellen stellen jedoch fest, dass sich das Verhalten gegenüber Rückkehrerinnen mit offenen Schulden verhärtet hat, da der Transfer von Frauen nach Europa erschwert sei und die Menschenhändler somit aus finanzieller Sicht auf eine Weiterarbeit der Frauen angewiesen seien. Die Hauptform von Repressalien ist die Reviktimisierung, z.T. auch in anderen Ländern. 8 oder 9 von 10 weiblichen Menschenhandelsopfern, die nach Edo State zurückgeführt werden, werden erneut Opfer von Menschenhandel [...].

Nach der vorzunehmenden Gesamtabwägung droht den Klägern somit bei einer Rückkehr in das Heimatdorf der Klägerin zu 1) beachtlich wahrscheinlich, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung durch die Menschenhändlerin ausgesetzt zu sein. Da die Klägerin unter falschen Vorwänden und unter Ausnutzung einer prekären wirtschaftlichen Lage zur Ausreise bewegt wurde, ist sie hinsichtlich eines Menschenhandels gem. Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie vorverfolgt, sodass für die Gefahr eines ernsthaften Schadens im Zusammenhang mit einer Reviktimisierung eine Beweiserleichterung gilt. Neben dem allgemeinen Rückgriff auf Gewalt durch Menschenhändler sowie der Gefahr des Re-Trafficking ist in der konkreten Situation der Kläger gefahrerhöhend zu berücksichtigen, dass aus Sicht der Menschenhändlerin offene Geldschulden der Klägerin zu 1) bestehen und die Klägerin zu 1) in einem Strafverfahren gegen die Menschenhändlerin mit Folge einer Verurteilung aufgetreten ist. Gleichsam ist von einer Betroffenheit des Klägers zu 2) als minderjährigem Kind der Klägerin zu 1) auszugehen. Es ist aufgrund der glaubhaften und sich insoweit auch mit den Erkenntnismitteln deckenden Aussage einer persönlichen Involvierung der Tante der Klägerin zu 1) auch beachtlich wahrscheinlich, dass die Kläger im Falle einer Rückkehr zur Familie der Klägerin zu 1) von der - sich nach Angaben der spanischen Justiz inzwischen wieder freien - Menschenhändlerin aufgespürt werden könnten. In Anbetracht der allgemein hohen Reviktimisierungsrate in Edo State ist auch nicht davon auszugehen, dass ein Wiederauffinden der Kläger allein durch Bemühungen des Vaters der Klägerin zu 1) verhindert werden könnte. [...]

Menschenhandel mit dem Ziel sexueller Ausbeutung steht in Nigeria unter Strafe [...]. Nach Angaben eines für Benin City zuständigen Polizeivertreters sind die nigerianischen Sicherheitsbehörden jedoch kaum im Rahmen der Gewährleistungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung und überwiegend im Bereich des privaten Personenschutzes aktiv [...]. Eine zuverlässige nationale Notrufnummer existiert nicht. Trotz sichtbarer Polizeipräsenz in Großstädten reagieren Strafverfolgungsbehörden in der Regel langsam oder gar nicht und bieten Opfern lediglich minimale Ermittlungsunterstützung. Ein Anruf bei der Polizei kann zur Forderung von Bestechungsgeldern führen. Kriminelle Gruppen fürchten keine Verhaftungen oder Strafverfolgungen [...]. Die Polizei ist nach wie vor anfällig für Korruption und im Rahmen aller staatlichen Einrichtungen vertreten. Gesetzliche Sanktionen diesbezüglich werden nicht konsequent umgesetzt [...]. Die nigerianische National Agency for the Prohibition of Trafficking in Persons (NAPTIP) als zentrale Behörde zur Bekämpfung des Menschenhandels verfügt trotz gewisser Erfolge in Edo State nicht über die Ressourcen, um ausreichende proaktive Anti-Menschenhandelsoperationen in großen Teilen des Landes durchzuführen. Insbesondere ist die Identifizierung und Untersuchung von Menschenhandel in ländlichen Regionen erschwert [...]. Zudem bestehen Koordinierungsschwierigkeiten zwischen NATIP sowie anderen Regierungsorganisationen [...]. Zum Teil kam es auch zur Involvierung von Regierungskräften in Menschenhandel, und die Korruption verbleibt insoweit als großes Problem in Justiz und im Migrationsbereich. Die Bemühungen nationaler NGOs werden teilweise als nicht hinreichend umfassend, ausreichend oder finanziert angesehen [...].

Bei der Zumutbarkeit der Inanspruchnahme des internen Schutzes sind in einer umfassenden wertenden Gesamtbetrachtung die allgemeinen sowie individuellen Verhältnisse am Ort der Niederlassung in den Blick zu nehmen. Dies betrifft insbesondere die Gewährleistung des wirtschaftlichen Existenzminimums. Maßstab für eine Zumutbarkeit ist, dass eine Verletzung des Art. 3 EMRK nicht zu besorgen ist [...]. Bei der Frage der Sicherung des Lebensunterhalts durch den Asylbewerber ist die Kernfamilie bzw. eine intensive Form der Beistandsgemeinschaft einzubeziehen [...]. Abgesehen von einer fehlenden Gewährleistung des wirtschaftlichen Existenzminimums kommt eine Unzumutbarkeit wegen der Vorenthaltung von Grund- oder Menschenrechten bürgerlicher, politischer oder sozialer Natur nur dann in Betracht, wenn die Verletzung unabhängig vom Vorliegen eines Verfolgungsakteurs oder eines Verfolgungsgrundes die Intensität des § 3a Abs. 1 AsylG erreicht [...].

Eine Art. 3 EMRK widersprechende unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Hinblick auf die allgemeinen Lebensumstände kann sich aus einer allgemeinen Situation der Gewalt, aus einem besonderen Merkmal des Ausländers oder einer Kombination von beidem ergeben; fehlt ein für die Verhältnisse eindeutig maßgeblich verantwortlicher Akteur, kann eine Verletzung in ganz außergewöhnlichen Fällen durch (schlechte) humanitäre Verhältnisse erfolgen, wenn die humanitären Gründe einer Ausweisung zwingend entgegenstehen. Für die Annahme eines Abschiebungsverbotes aufgrund der allgemeinen Lebensumstände im Zielstaat müssen die dem Ausländer drohenden Gefahren ein gewisses "Mindestmaß an Schwere" erreichen. Dies kann dann der Fall sein, wenn der Ausländer bei Würdigung aller Umstände des konkreten Einzelfalls im Zielstaat der Abschiebung seinen existenziellen Lebensunterhalt nicht sichern, kein Obdach finden oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhalten kann. Für die Annahme muss von einem sehr hohen Gefahrenniveau ausgegangen werden können; nur dann liegt ein ganz außergewöhnlicher Fall vor, der eine Ausweisung aus humanitäre Gründen unzulässig macht. Erforderlich ist, dass eine solche tatsächliche Gefahr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit besteht, wobei dafür auf den gesamten Abschiebungszielstaat abzustellen ist [...].

Die allgemeine wirtschaftliche Lage in Nigeria ist nach den zu Verfügung stehenden Erkenntnismitteln problematisch. Im Zuge der Auswirkungen der Covid-19-Pandemie wurde die nigerianische Wirtschaft schwer vom Verfall des Erdölpreises als wichtigstes Wirtschaftsprodukt getroffen. Für das Jahr 2020 war mit einem Rückgang des BIP bei gleichzeitigem Bevölkerungswachstum zu rechnen. Jedoch hat die Wirtschaft bereits im 4. Quartal 2020 wieder zu expandieren begonnen. Im Jahr 2021 ist sie getragen vom Ölpreis weiter gewachsen. Für den größten Teil der Bevölkerung bietet der (informelle) Handel und die Landwirtschaft eine Subsistenzmöglichkeit: Über 70 Prozent der Bevölkerung sind im von der Regierung stark geförderten Agrarsektor beschäftigt. Speziell für die breite Bevölkerung ist die finanzielle Lage in Nigeria dennoch schlecht: Die Einkommen sind höchst ungleich verteilt, 40 Prozent der Bevölkerung leben in absoluter Armut und haben weniger als einen Dollar am Tag zur Verfügung, schätzungsweise 90 Prozent der Bevölkerung müssen mit einem Einkommen unter 5,50 US-Dollar auskommen. Dabei ist die Armut auf dem Land größer als in den städtischen Ballungsgebieten. Auch die Arbeitslosigkeit ist nach den letzten verfügbaren Zahlen hoch. Mangels lohnabhängiger Arbeit gehen zunehmend mehr Nigerianer einer selbstständigen Arbeit im informellen Wirtschaftssektor nach. Diese und die Unterstützung der Großfamilien trägt die Last der sozialen Sicherung. Allgemein ist anzunehmen, dass eine nach Nigeria zurückkehrende Person - auch wenn sie keine Sicherheit in einem Familienverband findet - sich ihre existenziellen Grundbedürfnisse durch selbstständige Arbeit sicher kann, insbesondere beim Angebot von Rückkehrhilfen [...]. Die Bedingungen sind gerade für alleinstehende Frauen zusätzlich erschwert. Zwar kommt es in Nigeria trotz rechtlicher Gleichstellung zu beachtlicher ökonomischer Diskriminierung von Frauen, insbesondere im Hinblick auf Erbschaft und Landbesitz [...]. Es ist Frauen in Nigeria generell gesellschaftlich nicht zugedacht, Karriere zu machen, da Männer als Versorger der Familie gelten; dennoch finden Frauen und auch alleinerziehende Mütter - unter Berücksichtigung der allgemeinen Arbeitslosigkeit - üblicherweise Zugang zum Arbeitsmarkt, wobei die Art der Arbeit von der Bildung abhängt [...]. Bei einem Umzug in die Großstadt besteht für alleinstehende Frauen zudem die Gefahr, keine wirtschaftliche Unterstützung mehr von der eigenen Großfamilie zu erhalten [...], sodass der Wechsel des Wohnortes gerade für alleinstehende Frauen und Mütter ohne Netzwerk schwierig ist. Im liberalen Südwesten des Landes und vor allem in den Städten werden alleinstehende oder allein lebende Frauen eher akzeptiert [...]. Aus all dem ist zu folgern, dass trotz der Auswirkungen der Covid-19-Pandemie bei einer Niederlassung in den urbanen Zentren und Metropolen im südlichen Nigeria eine Sicherung der grundlegenden Existenzbedürfnisse auch für Familien mit versorgungsbedürftigen Kleinkindern und ohne unterstützende Familienstruktur vor Ort möglich ist, insbesondere bei Inanspruchnahme der Rückkehrhilfen bei freiwilliger Ausreise oder von in Nigeria tätigen Hilfsorganisationen; es sind jedoch die individuellen Umstände zu berücksichtigen, wobei Bildung, berufliche Fähigkeiten, die familiäre und psychologische Situation, der ökonomische Status und etwaige Kontakte in Nigeria von Bedeutung sein können. [...]

Aufgrund der vorherrschenden Stigmatisierung und Missverständnissen sowie einer mangelhaften psychiatrischen Versorgung ist man in Nigeria für eine Behandlung psychischer Krankheiten zur Konsultation religiöser und traditioneller Heiler veranlasst. Ein mit westlichen Standards vergleichbares Psychiatriewesen existiert nicht, lediglich Verwahreinrichtungen auf niedrigem Niveau, in denen Menschen oft gegen ihren Willen untergebracht werden und in denen keine adäquate Behandlung stattfindet. Nur vereinzelt gibt es auf psychische Erkrankungen spezialisierte Krankenhäuser und Ärzte. Eine medizinische Behandlung ist grundsätzlich selbst zu finanzieren [...].