VG Münster

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Zitieren als:
VG Münster, Urteil vom 07.12.2022 - 3 K 323/21.A - asyl.net: M31260
https://www.asyl.net/rsdb/m31260
Leitsatz:

Kein Widerruf des subsidiären Schutzes für jungen, gesunden Mann aus Afghanistan:

1. Aufhebung des Widerrufsbescheids, weil sich an der Sachlage, die zu der Zuerkennung von subsidiärem Schutz durch das Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) geführt hat, durch die zwischenzeitlich eingetretene Volljährigkeit des Klägers nichts wesentlich geändert hat.

2. Der Kläger hat vor sieben Jahren im Alter von fünfzehn Jahren Afghanistan verlassen und ist mit den Bedingungen des Arbeitsmarkts dort in keiner Weise vertraut. Er kann auch nicht auf ein familiäres oder soziales Netzwerk in Afghanistan zurückgreifen, das ihm bei der Arbeitsplatzsuche helfen oder finanziell unterstützen könnte. Seine Mutter und Geschwister leben nämlich in Deutschland und von seinem Vater wird er bedroht.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Widerrufsverfahren, interner Schutz, interne Fluchtalternative, Existenzminimum, Existenzgrundlage, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, alleinstehende Männer,
Normen: AsylG § 73b Abs. 1 a.F., AsylG § 4 Abs. 1, AsylG § 4 Abs. 3,
Auszüge:

[...]

Das Bundesamt hatte dem Kläger mit Bescheid vom 14. September 2016 subsidiären Schutz zuerkannt, weil es offenbar davon ausgegangen war, dass der Kläger - ebenso wie seine Mutter und seine Geschwister - von seinem Vater bedroht wurde und ihm deshalb eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG drohte. An der Sachlage, die die zu der Einschätzung des Bundesamtes geführt hat, hat sich nichts dadurch geändert, dass der Kläger zwischenzeitlich volljährig geworden ist. Sofern der Kläger in der Vergangenheit von seinem Vater bedroht wurde, besteht diese Bedrohung nach wie vor fort. Die Volljährigkeit des Klägers schützt ihn vor möglichen Angriffen seines Vaters nicht. [...]

Erforderliche, aber auch hinreichende Voraussetzung für die Niederlassung ist, dass das wirtschaftliche Existenzminimum auf einem Niveau gewährleistet ist, das eine Verletzung des Art. 3 EMRK nicht besorgen lässt, vgl. BVerwG, Urteil vom 18. Februar 2021 - 1 C 4.20 -, Juris Rn. 27.

Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Es kann nicht vernünftigerweise erwartet werden, dass sich der Kläger in Kabul oder in einem anderen Teil von Afghanistan niederlässt, denn nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnissen droht dem Kläger im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine derart außergewöhnliche Gefahrenlage, die eine erniedrigende oder unmenschliche Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK darstellen würde. Das Gericht ist davon überzeugt, dass der Kläger unter den derzeit in Afghanistan herrschenden Lebensbedingungen nicht in der Lage wäre, die für sein Überleben notwendige Versorgung sicherzustellen.

Die Lebensbedingungen in Afghanistan waren schon vor der Machtübernahme durch die Taliban als prekär anzusehen. Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt. Trotz Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, erheblicher Anstrengungen der afghanischen Regierung und kontinuierlicher Fortschritte belegte Afghanistan 2020 lediglich Platz 169 von 189 auf dem Human Development Index der Vereinten Nationen. Die Armutsrate in den Städten war bis zum Zeitraum 2019/2020 bereits auf mehr als 45 % angewachsen und dürfte im Verlauf des letzten Jahres weiter angestiegen sein. Dem starken Bevölkerungswachstum von etwa 2,3 % im Jahr steht laut Weltbank ein Rückgang des afghanischen Bruttoinlandsprodukts um 1,9% (2020) gegenüber. Laut der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) lag die Arbeitslosenquote 2020 offiziell zwar lediglich bei 11,7 %. Der afghanischen Statistikbehörde zufolge befanden sich jedoch 40 % der Bevölkerung in keinem formalen Beschäftigungsverhältnis oder waren unterbeschäftigt. Die Grundversorgung ist für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung, dies gilt auch für Rückkehrer. Diese bereits prekäre Lage hat sich seit März 2020 durch die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie, der Wirtschaftskrise und der Dürren der vergangenen Jahre stetig weiter verschärft (vgl. Lageberichte des Auswärtigen Amts vom 20.07.2022, S. 7, und 15.07.2021, S. 20 f.; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation - Afghanistan, 28.01.2022, S. 155).

Die Covid-19-Pandemie trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei. Es ist davon auszugehen, dass die auf die Pandemie zurückgehende Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage auch noch längere Zeit anhalten wird. Eine Erholung ist laut Weltbank nicht vor 2023/2024 zu erwarten (vgl. World Bank Group, Surviving the Storm, Juli 2020, S. 15; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation - Afghanistan, 28.01.2022, S. 7).

Es wird für das Jahr 2022 mit einem Einbruch des Bruttosozialprodukts um ein Drittel im Vergleich zum Vorjahr gerechnet (Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 20.07.2022, S. 7).

Verschärft wird die Situation auf dem Arbeitsmarkt noch durch die Rückkehr vieler Afghanen in ihr Heimatland im Zuge der Covid-19-Pandemie, insbesondere aus dem Iran. Bei der Zahl der Rückkehrer aus dem Iran wurde 2020 mit 860.000 ein neuer Höchststand erreicht (2019: 485.000; 2018: 775.000). Im Jahr 2021 sind laut der Internationalen Organisation für Migration (I0M) mehr als 980.000 Personen aus Pakistan und dem Iran nach Afghanistan zurückgekehrt (vgl. Lageberichte des Auswärtigen Amts vom 15.07.2021, S. 24, und vom 22. 10. 2021, S. 14; Konrad-Adenauer-Stiftung, Die Covid-Krise in Afghanistan: Welche Auswirkungen auf die humanitäre und politische Lage?, Stand: Juli 2020, S. 4.

Vor dem Hintergrund, dass immer mehr Menschen um immer weniger Arbeit ringen, spielt die Existenz eines familiären oder sozialen Netzwerks gerade für Rückkehrer aus dem westlichen Ausland eine maßgebliche und noch größere Rolle als schon vor Ausbruch der Pandemie (vgl. VGH Bad.-Württ., Urteil vom 17.12. 2020 - A 11 S 2042/20 -, juris, Rdn. 108; Schwörer, Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf die Lage in Afghanistan, S. 16; Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 15.07.2021, S. 24).

Durch die Machtübernahme der Taliban haben sich die wirtschaftlichen Probleme für die Bevölkerung noch einmal erheblich verschärft. Die durch die Folgen der Covid-19-Pandemie und anhaltende Dürreperioden bereits angespannte Wirtschaftslage steht in Folge des Zusammenbruchs der afghanischen Republik vor dem vollständigen Kollaps. Rückkehrer verfügen aufgrund des gewaltsamen Konflikts und der damit verbundenen Binnenflucht der Angehörigen nur in Einzelfällen über die notwendigen sozialen und familiären Netzwerke, um die desolaten wirtschaftlichen Umstände abzufedern. Zahlreiche Haushalte, die von Gehältern im öffentlichen Dienst, im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit oder von Tätigkeiten bei internationalen Akteuren abhängig waren, haben ihre Einkommensquellen verloren (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 22.10.2021, S. 5, 14).

Seit dem Machtwechsel hat sich die Lage in Afghanistan zu einer der schwersten humanitären Krisen weltweit entwickelt. Fast 23 Millionen Menschen, mehr als die Hälfte der Bevölkerung sind nicht ausreichend mit Nahrungsmitteln versorgt. Die Zahl der Menschen, die vom Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) Ernährungshilfe erhalten, hat sich seit August 2021 fast versechsfacht. 15 Millionen Menschen wurden bis Ende Dezember 2021 unterstützt (vgl. Der Tagesspiegel, "Es bleibt ein Rennen gegen die Zeit", 31.01.2022, abrufbar unter www.tagesspiegel.de/politik/fast-23-millionen-afghanen-hungern-es-bleibt-ein-rennen-gegen-die-zeit/28022264.html).

Die Dürre im Jahr 2021 war zudem bereits die zweite schwere Dürre innerhalb von drei Jahren, welche zu Missernten, einem drastischen Verfall der Viehpreise und zu Trinkwasserknappheit geführt hat. Besonders stark sind der Süden, Westen und Nordwesten des Landes betroffen (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation - Afghanistan, 28.01.2022, S. 157). [...]

Es ist davon auszugehen, dass er sein Existenzminimum in Afghanistan nicht durch eigene Erwerbstätigkeit sicherstellen können wird. Der Kläger hat Afghanistan vor sieben Jahren im Alter von 15 Jahren verlassen. Er ist mit den Bedingungen des afghanischen Arbeitsmarkts in keiner Weise vertraut. Er wird voraussichtlich nach seiner Rückkehr nach Afghanistan keinen Zugang zum dortigen Arbeitsmarkt finden. Der Kläger kann auch in Afghanistan auf kein familiäres oder soziales Netzwerk zurückgreifen, das ihm bei der Arbeitsplatzsuche helfen oder ihn finanziell unterstützen könnte. Seine Mutter sowie seine Geschwister leben in Deutschland. Von seinem Vater wird er bedroht. Zu sonstigen Verwandten hat er keinen Kontakt. [...]