VG Münster

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Zitieren als:
VG Münster, Urteil vom 19.09.2022 - 9 K 1349/20.A - asyl.net: M31255
https://www.asyl.net/rsdb/m31255
Leitsatz:

Abschiebungsverbot für Vater aus Somalia:

1. Sogenannte Mischehen zwischen Angehörigen von Mehrheitsclans und Angehörigen der Gabooye werden in Somalia zwar meist nicht akzeptiert und es kommt zu gesellschaftlicher Diskriminierung. Allerdings kommt es deshalb nur selten zu Gewalt oder gar Tötungen, weswegen nicht von einer drohenden Verfolgung gemäß § 3 Abs. 1 AsylG auszugehen ist.

2. Angehörige der Gabooye leben in Somalia zwar unter besonders schwierigen sozialen Bedingungen und sehen sich, da sie nicht in die Clan-Strukturen eingebunden sind, in vielfacher Weise von der übrigen Bevölkerung wirtschaftlich, politisch und sozial ausgegrenzt. Eine systematische Ausgrenzung oder Verfolgung durch staatliche Stellen findet aber nicht statt, sodass nicht von einer Gruppenverfolgung auszugehen ist.

3. Die Existenzbedingungen am Herkunftsort des Klägers vermögen keine "unmenschliche oder erniedrigende Behandlung" im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG zu begründen. Denn diese Existenzbedingungen sind nicht maßgeblich auf zielgerichtetes Handeln bzw. Unterlassen eines Akteurs zurückzuführen.

4. Weder in Somaliland noch in Mogadischu besteht die ernsthafte Gefahr, gemäß § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AsylG Opfer eines bewaffneten Konflikts zu werden.

5. Dem an Diabetes leidenden Vater einer vierköpfigen Familie mit zwei Kleinkindern wird es in Somalia nicht gelingen, eine Existenzgrundlage zu erwirtschaften, sodass gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG das Bestehen eines Abschiebungsverbots festzustellen ist. Entscheidend ist dabei u.a., dass keine Unterstützung durch Familienangehörige der Ehefrau zu erwarten ist, da diese einen Angehörigen der Gabooye geheiratet hat.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Somalia, Abschiebungsverbot, Kind, Gabooye, Mischehe, Somaliland, Diabetes mellitus, Mogadischu, Existenzgrundlage,
Normen: AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 4 Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 5,
Auszüge:

[...]

Ausgehend von diesen Maßstäben begründet das Vorbringen des Klägers keine Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG. Es ist bereits nicht glaubhaft.

Die Schilderungen des Klägers waren in der Anhörung vor dem Bundesamt sehr allgemein gehalten und ohne hinreichende Details, die darauf hindeuten würden, dass die Angaben in dieser Form erlebnisbasiert sind. [...]

Die Ausführungen des Klägers blieben auch in der mündlichen Verhandlung in weiten Teilen vage und farblos. Nur sporadisch und erst auf konkrete Nachfragen gab er Details des vermeintlichen Verfolgungsgeschehens, hier insbesondere - im Hinblick auf die behaupteten Angriffe - die Zahl der Angreifer, deren Identität und Aussehen sowie Verletzungshandlungen preis. [...]

Auf die mangelnde Glaubhaftigkeit des Vortrags deutet zudem die Erkenntnislage im Hinblick auf Ehen zwischen einer Angehörigen eines Mehrheitsclan und einem Angehörigen einer berufsständischen Gruppe - diese Gruppen werden unter dem Sammelbegriff Gabooye zusammengefasst -, wie sie hier vorliegt, hin.

Wenngleich Mehrheitsclans Mischehen mit Angehörigen berufsständischer Gruppen meist nicht akzeptieren und es in dieser Frage weiterhin zu einer gesellschaftlichen Diskriminierung kommt, führt eine Mischehe so gut wie nie zu Gewalt oder gar zu Tötungen. Seltene Vorfälle, in denen es etwa in Somaliland im Zusammenhang mit Mischehen zu Gewalt kam, sind in somaliländischen Medien dokumentiert. [...]

Hinsichtlich der vorgetragenen Diskriminierungen aufgrund seiner Clanzugehörigkeit hat der Kläger keine den Anforderungen von § 3a AsylG entsprechenden Verfolgungshandlungen glaubhaft gemacht [...].

Dem Gericht liegen nach der aktuellen Erkenntnislage keine Hinweise auf ein die Gabooye als Gruppe betreffendes staatliches Verfolgungsprogramm vor. Zudem ist auch keine entsprechende Verfolgungsdichte ersichtlich. Dies gilt gerade deshalb, weil sich die Situation der Gabooye im Vergleich zur Jahrtausendwende, als sie nicht einmal normal die Schule besuchen konnten, deutlich gebessert hat. Insbesondere unter jungen Somali ist die Einstellung zu ihnen positiver geworden. Mittlerweile ist es für viele Angehörige der Mehrheitsclans üblich, auch mit Angehörigen berufsständischer Gruppen zu sprechen, zu essen, zu arbeiten und Freundschaften zu unterhalten. Es gibt keine gezielten Angriffe oder Misshandlungen. [...]

Zwar leben die Gabooye unter besonders schwierigen sozialen Bedingungen und sehen sich, da sie nicht in die Clan-Strukturen eingebunden sind, in vielfacher Weise von der übrigen Bevölkerung wirtschaftlich, politisch und sozial ausgegrenzt. Eine systematische Ausgrenzung von staatlichen Stellen findet aber nicht statt. Weder das traditionelle Recht noch Polizei und Justiz benachteiligen die Minderheiten systematisch. [...]

Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf die - hilfsweise geltend gemachte - Gewährung subsidiären Schutzes gemäß § 4 AsylG. Denn er hat keine stichhaltigen Gründe für die Annahme vorgebracht, dass ihm in Somalia ein ernsthafter Schaden im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG droht. [...]

Alleine die Existenzbedingungen am Herkunftsort des Klägers vermögen keine "unmenschliche oder erniedrigende Behandlung" im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG zu begründen. Denn diese Bestimmung und damit auch der ihr zugrunde liegende Art. 15 lit. b RL 2011/95/EU erfordern ein zielgerichtetes Handeln bzw. Unterlassen eines Akteurs, auf das die schlechte humanitäre Lage maßgeblich und nicht nur in geringem Umfang zurückzuführen ist. Ein derartiges zielgerichtetes Handeln oder Unterlassen eines Akteurs liegt in Somalia nicht vor. Der jahrelange bewaffnete Konflikt zwischen der al-Shabaab einerseits und den somalischen Regierungstruppen und deren Verbündeten andererseits mag zwar für die schlechte humanitäre Lage kausal sein. Die Handlungen dieser Akteure zielen aber nicht oder nur untergeordnet auf eine Verschlechterung der Lebensbedingungen der Zivilbevölkerung ab. Selbst wenn man in diesen Handlungen eine zielgerichtete Verschlechterung der humanitären Lage sehen würde, wäre dieser Einfluss relativ gering, weil der bewaffnete Konflikt der maßgebliche Grund für die schlechten Lebensbedingungen ist und die zielgerichtete Verschlechterung nur einen Teilgrund bilden. [...]

Dem Kläger droht ebenso wenig eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG.

Es kann offen bleiben, ob die derzeitige allgemeine Sicherheitslage in den insoweit maßgeblichen Regionen Woqooyi Galbeed, dort insbesondere Hargeisa, und Banadir die Annahme eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts im Sinne dieser Vorschrift rechtfertigt. [...]

Denn jedenfalls ist der Kläger auch bei Vorliegen eines derartigen Konflikts keiner ernsthaften individuellen Bedrohung infolge willkürlicher Gewalt ausgesetzt. [...]

Für die vorzunehmende Gefahrenprognose ist auf den tatsächlichen Zielort bei einer Rückkehr abzustellen. Dies ist in der Regel die Herkunftsregion des Ausländers, in die er typischerweise zurückkehren wird. [...]

Im Fall des Klägers ist davon auszugehen, dass er in den Raum Hargeisa in der Region Woqooyi Galbeed in Somaliland, wo er aufgewachsen ist, oder nach Mogadischu zurückkehren würde, wo sein Onkel zuletzt lebte. Somaliland ist einer der sichersten und relativ stabilsten Orte - nicht nur am Horn von Afrika, sondern im gesamten Großraum Ostafrika [...]

Nach UN-Angaben aus dem Jahre 2014 leben in der Region Banadir, die die Fläche der Stadt Mogadischu umfasst, 1.650.227 Einwohner [...]

Demgegenüber stehen 549 zivile und nicht-zivile Todesopfer bei 535 Sicherheitsvorfällen im Jahr 2021 sowie 142 Todesopfer bei 150 Vorfällen im Zeitraum Januar bis März 2022. [...]

Daraus ergibt sich - selbst bei Annahme der niedrigsten oben genannten Einwohnerzahl - eine Wahrscheinlichkeit von lediglich ca. 0,03 %, im Rahmen eines bewaffneten Konfliktes getötet zu werden. [...]

Einem erhöhten Risiko sind v.a. solche Personen ausgesetzt, die in Verbindung mit der Regierung stehen oder von der Miliz als Unterstützer der Regierung wahrgenommen werden. [...]

Mangels Zugehörigkeit zu einer Risikogruppe ist die Gefahr für den Kläger, Opfer willkürlicher Gewalt zu werden, als äußerst gering einzustufen.

Der Kläger hat jedoch einen Anspruch gegen die Beklagte auf die - weiter hilfsweise geltend gemachte - Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG im Hinblick auf den Zielstaat Somalia. [...]

Somalia gehört zu den ärmsten Ländern der Erde. Die Grundversorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln ist in weiten Landesteilen nicht gewährleistet. [...]

Mehrere Schocks haben die Geschwindigkeit der wirtschaftlichen Erholung des Landes unterminiert, darunter Überschwemmungen, eine Heuschreckenplage und die Covid-19-Pandemie. [...]

Einerseits wird berichtet, dass die Arbeitsmöglichkeiten für Flüchtlinge und zurückkehrende Flüchtlinge in Süd-/Zentralsomalia limitiert sind. [...]

Die Ernährungssicherheit in Somalia hat sich in jüngster Zeit verschlechtert. [...]

Auch angesichts der Covid-19-Pandemie ist nicht davon auszugehen, dass sich die humanitären Verhältnisse in Somalia derart verschlechtert hätten oder alsbald verschlechtern werden, dass mit ihnen generell eine Verletzung von Art. 3 EMRK einhergehen würde. Für eine solche Annahme sind bei Zugrundelegung der herangezogenen Erkenntnisse keine Anhaltspunkte ersichtlich. [...]

Ausgehend von den vorstehenden Erkenntnissen stellt - in Anbetracht der persönlichen Umstände des Klägers - in seinem Fall eine Abschiebung nach Somalia eine Verletzung des Art. 3 EMRK dar. [...]

Der Kläger ist Vater eines Kindes im Alter von einem Jahr. Seine Ehefrau erwartet im ... ein weiteres Kind. Zwar gelang es ihm vor seiner Ausreise durch eine Tätigkeit im Großhandel, den Lebensunterhalt für sich alleine zu erwirtschaften. Es ist jedoch vor dem Hintergrund der aktuellen Versorgungslage beachtlich wahrscheinlich, dass es der Familie nunmehr bei einer gemeinsamen Rückkehr nicht gelingen wird, ihren Lebensunterhalt sicherzustellen. Dem steht nicht entgegen, dass sowohl der Kläger als auch seine Ehefrau einen hohen Bildungsgrad haben und diese aus einer wohlhabenden Familie stammt. Zwar war die konkret vom Kläger vorgetragene Verfolgungsgeschichte nicht glaubhaft. Dass die Bande zur Familie seiner Ehefrau abgerissen sind, kann vor dem Hintergrund der vorliegenden Clanzugehörigkeiten jedoch mit hinreichender Wahrscheinlichkeit angenommen werden.

Mehrheitsclans akzeptieren Mischehen mit Angehörigen berufsständischer Gruppen meist nicht. Dies gilt insbesondere dann, wenn - wie hier - eine Mehrheitsfrau einen Minderheitenmann heiratet. [...]

Neben der im Vergleich zu vor der Ausreise gestiegenen Zahl der zu versorgenden Familienmitglieder und der sich drastisch verschlechterten Ernährungssituation in Somalia kommt ferner hinzu, dass der Kläger ausweislich der vorgelegten Arztberichte unter anderem an Diabetes mellitus Typ 1 leidet. [...]

Die medizinische Versorgung ist im gesamten Land äußerst mangelhaft. [...]

Auch die oben dargestellten Auswirkungen der Nahrungsmittelkrise auf die besonders vulnerablen Kinder lassen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit erwarten, dass ein Leben des Klägers und seiner Familie auch nur am Existenzminimum nicht gelingen wird. [...]