VG Minden

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Zitieren als:
VG Minden, Urteil vom 12.12.2022 - 2 K 1915/21.A - asyl.net: M31254
https://www.asyl.net/rsdb/m31254
Leitsatz:

Abschiebungsverbot für psychisch erkrankte Person aus Serbien:

Ein Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 7 AufenthG kann sich im Falle von Traumafolgestörungen wegen drohender Retraumatisierungen auch unabhängig von der Frage ergeben, ob die betroffene Person im Zielstaat die erforderliche Behandlung erlangen könnte.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Widerruf, Posttraumatische Belastungsstörung, PTBS, psychische Erkrankung, Retraumatisierung, Angststörung, Suizidgefahr,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1, AsylG § 73c Abs. 2, AufenthG § 60 Abs. 5,
Auszüge:

[...]

Mit Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) vom 13.10.2015 (Az: ...-170) wurde für sie ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 AufenthG festgestellt, nachdem die Beklagte mit Urteil des Verwaltungsgerichts Minden vom 22.04.2015 - 2 K 629/14.A - unter teilweiser Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 18.02.2014 verpflichtet worden war, festzustellen, dass in der Person der Klägerin ein Abschiebungsverbot in Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegt. Die seit 16.06.2015 unanfechtbare gerichtliche Entscheidung beruhte im Wesentlichen auf der durch gutachterliche Stellungnahme aus dem Fachgebiet Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des ..., Klinik für Psychosomatische Medizin der … vom … 2014 attestierten posttraumatischen Belastungsstörung, dissoziativen Krampfanfällen, einer schweren Episode einer depressiven Störung und Somatisierungsstörung und der daraus folgenden erheblichen Gesundheitsgefährdung durch die Rückkehr nach Serbien, die wegen der zu erwartenden Retraumatisierung dort nicht in ausreichendem Maße behandelbar sei. Es sei aus klinischer Sicht davon auszugehen, dass es im Falle einer erzwungenen Rückkehr in das Herkunftsland Serbien rasch, vermutlich innerhalb weniger Wochen, zu einer massiven Verschärfung der Erkrankung im Sinne einer Retraumatisierung mit suizidalen Impulsen und Handlungen käme und damit zu einer individuellen Gesundheits- und Lebensgefährdung. Diese Einschätzung sei unabhängig davon, ob im Herkunftsland Behandlungsmöglichkeiten bestehen. Denn selbst wenn dort entsprechende Behandlungsmöglichkeiten gegeben sein sollten, würde durch die zwangsweise Rückkehr ein Prozess der Verschlimmerung in Gang gesetzt, der auch durch eine unmittelbare Behandlung nicht in der Form aufgefangen werden könnte, dass die lebensbedrohliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes der Klägerin verhindert werden könnte. [...]

Mit Bescheid vom 13.04.2021 widerrief das Bundesamt das mit Bescheid vom 13.10.2015 (Az. ...-170) festgestellte Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (Ziffer 1.) und stellte fest, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG nicht vorliege (Ziffer 2). [...]

Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 13.04.2021 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO), weil das Bundesamt das mit Bescheid vom 13.10.2015 festgestellte Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu Unrecht widerrufen hat.

Gemäß § 73 c Abs. 2 AsylG ist die Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen nicht mehr vorliegen.

Die Klägerin hat im hier maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) weiterhin Anspruch auf die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in ihrer Person hinsichtlich Serbiens vorliegen. [...]

Die Klägerin ist aufgrund ihrer Erkrankungen und der sich daraus ergebenden Behandlungsnotwendigkeiten in ihrem Heimatland - weiterhin - von den in § 60 Abs. 7. Satz 1 AufenthG genannten Gefahren bedroht. Das Gericht geht davon aus, dass die Klägerin, wie in der gutachterlichen Stellungnahme des PD Dr. med. … vom … 2014 ausgeführt wird, - weiterhin - psychisch schwer erkrankt ist. Die aufgrund dreier Untersuchungstermine sowie einer dreistündigen Exploration gestellten Diagnosen lauten posttraumatische Belastungsstörung, dissoziative Krampfanfälle, depressive Störung, aktuelle schwere Episode, sowie Somatisierungsstörung. Vor diesem Hintergrund kommt das Gutachten zu der Prognose, dass aus fachlicher und psychotraumatologischer Sicht aufgrund des individuellen Störungsbildes bei der Klägerin von einer erheblichen Gesundheitsgefährdung auszugehen sei, die in der Traumafolgestörung der Patientin begründet liegt. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird insoweit auf das Urteil des erkennenden Gerichts vom 22.04.2015 - 2 K 629/14.A - verwiesen. Selbst wenn in der Ärztlichen Bescheinigung des Facharztes für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatische Medizin vom … 2020 lediglich auf die in der gutachterlichen Stellungnahme des PD Dr. med. ... vom … 2014 festgestellten Diagnosen Bezug genommen wird, so gelten nach Überzeugung des Gerichts die in der gutachterlichen Stellungnahme des PD Dr. med. … angeführten Feststellungen zur massiven Verschärfung der Erkrankung im Sinne einer Retraumatisierung mit suizidalen Impulsen und Handlungen und damit einer individuellen Gesundheits- und Lebensgefährdung weiterhin fort, selbst wenn unter den vergleichsweise sicheren Umständen in Deutschland eine psychische Stabilisierung durch konsequente Vermeidung der sogenannten "Trigger" erfolgt sein sollte. Nach Überzeugung des Gerichts ist davon auszugehen, dass es bei der Klägerin nach einer erzwungenen Rückkehr in ihr Herkunftsland Serbien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit vermutlich innerhalb weniger Wochen zu einer massiven Verschärfung der Erkrankung im Sinne einer Retraumatisierung mit suizidalen Impulsen und Handlungen und damit zu einer individuellen Gesundheits- und Lebensgefährdung kommen wird. [...] Diese Einschätzung sei nach den Ausführungen des PD Dr. med. … unabhängig davon, ob im Herkunftsland Behandlungsmöglichkeiten bestehen. Denn selbst wenn dort entsprechende Behandlungsmöglichkeiten gegeben sein sollten, würde durch die zwangsweise Rückkehr ein Prozess der Verschlimmerung in Gang gesetzt, der auch durch eine unmittelbare Behandlung nicht in der Form aufgefangen werden könnte, dass die lebensbedrohliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes bei der Klägerin verhindert werden könnte. Das Gericht sieht keinen Anlass, an dieser ausführlich begründeten fachärztlichen Stellungnahme zu zweifeln und ist davon überzeugt, dass die aufgezeigten Gefahren einer massiven Verschärfung der Erkrankung im Sinne einer Retraumatisierung mit suizidalen Impulsen und Handlungen und damit einer individuellen Gesundheits- und Lebensgefährdung der Klägerin nach der individuellen Ausprägung der Erkrankung der Klägerin weiterhin fortbestehen. [...]