OVG Sachsen

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Zitieren als:
OVG Sachsen, Urteil vom 10.11.2022 - 1 A 1081/17.A - asyl.net: M31251
https://www.asyl.net/rsdb/m31251
Leitsatz:

Abschiebungsverbot für junge, gesunde Männer ggf. auch bei Rückkehr in Familienverband:

"1. Im Rahmen seiner gesetzlichen Mitwirkungspflicht aus § 10 Abs. 1 AsylG hat der Asylbewerber bei einer eigenen Wohnung einen Briefkasten vorzuhalten und daran sowie an der Tür deutliche Namensangaben anzubringen.

2. Es ist nicht mehr davon auszugehen, dass gesunde und leistungsfähige junge Männer als Rückkehrer aus dem westlichen Ausland ohne familiäre oder soziale Netzwerke in der Lage sind, sich auf niedrigem Niveau jedenfalls in Kabul eine Existenzgrundlage aufzubauen können. Angesichts der Erschöpfung einer Vielzahl der Ressourcen in den Familien vor Ort sowie dem Misstrauen bis hin zur Ablehnung, dem abgelehnte Asylbewerber aus dem westlichen Ausland in Afghanistan begegnen, kann auch die Reintegration eines Rückkehrers in einen in Afghanistan vorhandenen Familienverband nicht ohne Weiteres erwartet werden (Änderung der Senatsrechtsprechung)."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Afghanistan, Abschiebungsverbot, Zustellung, Mitwirkungspflicht, Zustellungsmangel, Postzustellungsurkunde, Zustellungsfiktion, Verwestlichung, Existenzgrundlage, Kabul, Arbeitsmarkt, Arbeitslosigkeit, Hunger, Nahrungsmittelunsicherheit
Normen: AsylG § 10 Abs. 1, AsylG § 10 Abs. 2 Satz 4, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4, AsylG § 4 Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 5, EMRK Art. 3, GR-Charta Art. 4,
Auszüge:

[...]

25 I. Der Zulässigkeit der Klage steht nicht das Versäumnis der Klagefrist des § 74 Abs.1 Halbsatz 1 AsylG entgegen.

26 Nach dieser Vorschrift muss die Klage gegen Entscheidungen nach dem Asylgesetz innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung der Entscheidung erhoben werden. [...]

28 2. Der zuvor erfolgte Zustellungsversuch vom 12. Mai 2016 konnte die Frist des § 74 Abs. 1 Halbsatz 1 AsylG nicht auslösen. Die nach § 74 Abs. 1 Halbsatz 1 AsylG erforderliche Zustellung ist ausweislich der Eintragung in der Postzustellungsurkunde nicht erfolgt. Die Zustellung gilt zudem nicht nach § 10 Abs. 2 Satz 4 AsylG als bewirkt. [...]

32 Die grundsätzlich auf den Kläger anwendbare Regelung des § 10 Abs. 2 Satz 4 AsylG kommt hier nicht zum Tragen, weil die Zustellung zwar unmöglich war, dies aber nicht auf einer Verletzung der Mitwirkungspflichten des Klägers beruhte. [...]

b) Die Zustellung des Bescheids vom 3. Mai 2016 war am 12. Mai 2016 unter der genannten Anschrift nicht möglich. Zu dieser Überzeugung gelangt der Senat unter Gesamtwürdigung der Postzustellungsurkunde, der übersandten Fotografie des Briefkastens und den Angaben des Klägers und der Aussage des Zeugen ..... [...]

36 Aus der Postzustellungsurkunde, dem Foto des Briefkastens und den Angaben des Klägers und des Zeugen .... kann der Senat gleichwohl schließen, dass der Kläger mit seinem im Bescheid genannten Namen an der genannten Anschrift nicht zu ermitteln war.

37 So wie eine unvollständige Beurkundung der Zustellung nichts an der Wirksamkeit der Zustellung ändert (vgl. BGH, Beschl. v. 14. Januar 2019 - AnwZ [Brfg] 59/17 -, juris Rn. 6), lässt die fehlende Unterschrift des Zustellers auch nicht zwingend jeden Beweiswert der Zustellungsurkunde entfallen. [...]

41 c) Eine Verletzung der Mitwirkungspflicht des Klägers aus § 10 Abs. 1 AsylG war für die Unmöglichkeit der Zustellung aber nicht ursächlich.

42 Nach § 10 Abs. 1 AsylG hat der Ausländer während der Dauer des Asylverfahrens vorzusorgen, dass ihn Mitteilungen des Bundesamtes, der zuständigen Ausländerbehörde und der angerufenen Gerichte stets erreichen können; insbesondere hat er jeden Wechsel seiner Anschrift den genannten Stellen unverzüglich anzuzeigen. [...]

Im Übrigen hat der Asylbewerber bei einer eigenen Wohnung einen Briefkasten vorzuhalten und daran sowie an der Tür deutliche Namensangaben anzubringen (Preisner, in: Kluth/Heusch, BeckOK AuslR, 34. Ed. Stand: 1. April 2022, AsylG § 10 Rn. 13; Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, AuslR, 14. Aufl. 2022, AsylG § 10 Rn. 6).

43 Diesen Anforderungen ist der Kläger durch die nach seinen Angaben von der Wohnungsverwaltung durchgeführte Beschriftung des Briefkastens und Klingelschilds mit den Namen "...../...../..../.../..../..." nachgekommen. Die Schreibweise seines Namens "...." entsprach derjenigen, mit der er zuvor bei der Ausländerbehörde registriert war (vgl. VG Göttingen, Urt. v. 5. Juli 2018 - 1 A 175/18 -, juris Rn. 22).

48 Der Kläger ist kein Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG.

102 2. Der Hilfsantrag des Klägers auf Verpflichtung der Beklagten zur Zuerkennung des subsidiären Schutzes bleibt ebenfalls ohne Erfolg, weil die entsprechende Antragsablehnung in Nr. 3 des Bescheids vom 3. Mai 2016 nicht rechtswidrig ist und den Kläger daher nicht in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). [...]

121 3. Allerdings ist die Klage im weiteren Hilfsantrag auf Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG erfolgreich, weil die auf Afghanistan bezogene Negativfeststellung in Nr. 4 des Bescheids vom 3. Mai 2016 rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). [...]

123 Der Abschiebung des Klägers nach Afghanistan steht § 60 Abs. 5 AufenthG entgegen. Danach darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685 [EMRK]) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Dies umfasst auch das Verbot der Abschiebung in einen Zielstaat, in welchem dem Ausländer Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Strafe oder Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK droht. [...]

130 b) Nach der aktuellen Erkenntnislage sprechen humanitäre Gründe zwingend gegen eine Abschiebung des Klägers nach Afghanistan und nach Kabul, als Ort, an dem die Abschiebung enden würde, da ihn die dort herrschenden allgemeinen humanitären Verhältnisse im engen zeitlichen Zusammenhang mit der Abschiebung in die tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen Behandlung i. S. v. Art. 3 EMRK bringen würden (vgl. OVG Hamburg, Urt. v. 23. Februar 2022 a. a. O., Rn. 38 m. w. N.). Da die humanitären Verhältnisse weder in den anderen Großstädten Afghanistans noch im ländlichen Bereich wesentlich günstiger als in Kabul sind, steht dem Kläger keine Fluchtalternative zur Verfügung.

131 Die prekäre Situation Afghanistans, die der Senat in seinem Urteil vom 18. März 2019 - 1 A 198/18.A - (juris Rn. 47 bis 82) dargestellt hat und auf die hier Bezug genommen wird [...], hat sich infolge der Covid-19-Pandemie sowie der Einstellung der internationalen Wirtschaftshilfen und des Einfrierens des Auslandsvermögens nach der Machtübernahme der Taliban nochmals erheblich verschärft. Es ist zu prognostizieren, dass es dem Kläger unter diesen Rahmenbedingungen nicht möglich sein wird, seinen existenziellen Lebensunterhalt zu sichern.

132 aa) Die Covid-19-Pandemie hat Afghanistan schwer getroffen. Infolge der Reaktion der internationalen Gemeinschaft auf den Machtwechsel im August 2021 ist die Wirtschaft des Landes kollabiert. [...]

135 Die afghanische Wirtschaft befindet sich seit der neuerlichen Machtübernahme der Taliban im August 2021 im freien Fall. [...]

Ein großer Teil der afghanischen Bevölkerung hat Schwierigkeiten, die tägliche Ernährung sicherzustellen. [...]

137 Landesweit sind die Menschen daher akut unterernährt und die Zahl der schweren Fälle akuter Unterernährung steigt. Dabei betrifft das Problem Personen aller Bildungsschichten und sowohl die städtischen als auch die ländlichen Familien. [...]

141 bb) Der Kläger wird sich unter diesen Rahmenbedingungen seinen existenziellen Lebensunterhalt nicht sichern können.

Es ist nicht mehr davon auszugehen, dass gesunde und leistungsfähige junge Männer als Rückkehrer aus dem westlichen Ausland ohne familiäre oder soziale Netzwerke in der Lage sind, sich auf niedrigem Niveau jedenfalls in Kabul eine Existenzgrundlage aufzubauen können [...]. Angesichts der Erschöpfung einer Vielzahl der Ressourcen in den Familien vor Ort sowie dem Misstrauen bis hin zur Ablehnung, dem abgelehnte Asylbewerber aus dem westlichen Ausland in Afghanistan begegnen, kann auch die Reintegration eines Rückkehrers in einen in Afghanistan vorhandenen Familienverband nicht ohne Weiteres erwartet werden. [...]

bbb) Nach Überzeugung des Senats wird der Kläger keinen hinreichenden Anschluss an den Arbeitsmarkt finden. Selbst als Tagelöhner wird er allenfalls ein unterdurchschnittliches Einkommen generieren können. Ein solches reicht zur Existenzsicherung nicht aus, da - wie das Hamburgische Oberverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 23. Februar 2022 eingehend dargestellt hat (a. a. O., Rn. 51 bis 63) und worauf der Senat Bezug nimmt - bereits das durchschnittliche Einkommen, welches ein ungelernter Arbeiter auf dem Arbeitsmarkt in Afghanistan bzw. Kabul erzielen kann, nicht genügt, um die Kosten zur Sicherung des Existenzminimums zu bestreiten. [...]

Der Kläger würde in Afghanistan auf einen sehr angespannten Arbeitsmarkt treffen. [...]

143 Arbeitslosigkeit herrscht insbesondere unter Rückkehrern. Laut einer multisektoralen Schnellbewertungsanalyse 2021 des UNHCR gaben 63 % der Haushalte von Binnenvertriebenen und Rückkehrern an, dass sie in der Zeit nach der Machtübernahme der Taliban nicht in der Lage waren, zu arbeiten und ihre täglichen Ausgaben zu decken. [...]

147 Seine Fähigkeiten als Maurer werden ihm keinen wesentlichen Vorteil bei der Arbeitssuche bieten, da der Zugang zum Arbeitsmarkt maßgeblich von lokalen Netzwerken abhängt. Arbeitgeber bewerten persönliche Beziehungen und Netzwerke höher als formelle Qualifikationen. [...]

Die Eingliederung in ein soziales Netzwerk würde bedeuten, dass der Kläger nach außen als Teil eines größeren Familienverbandes wahrgenommen wird und nach innen die ihm in einem solchen Verband zukommende soziale Rolle ausfüllt (Stahlmann, Gutachten, S. 208 bis 210). Für die Reintegration in ein solches soziales Netzwerk ist es erforderlich, dass die Verbindungen während seines Aufenthalts in der Bundesrepublik nicht abgebrochen sind und dass der in die örtliche Gemeinschaft eingebundene Familienverband fähig und bereit ist, den Kläger wieder aufzunehmen. Zumindest Letzteres kann unter den gegenwärtigen Umständen ausgeschlossen werden.

149 Die Kernfamilie des Klägers - insoweit folgt der Senat seinen Ausführungen - bestand aus seiner Mutter und seinem jüngeren Bruder, da sein Vater bereits in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts verstoben war. Als weitere Verwandte in Afghanistan gab er vor dem Bundesamt fünf Onkel mütterlicherseits und eine Schwester an, was der Senat ebenfalls nicht in Zweifel zieht. [...]

Gleichwohl ist nicht zu erwarten, dass der Kläger in diesen Verband Aufnahme findet. Die Wiederaufnahme in den Familienverband hätte zur Folge, dass der Kläger an den dortigen Ressourcen teilhaben kann. Je geringer die zur Verfügung stehenden Ressourcen, desto geringer ist nach den Regeln der traditionellen Sozialordnung die Erwartung, dass Verwandte mitversorgt werden. Ein Familienvater, der nicht in der Lage ist, seine Ehefrau und Kinder zu versorgen, ist nicht für die Versorgung der Familie seines Bruders zuständig (Stahlmann, Gutachten, S. 197). In der patriarchalen Gesellschaftsordnung sind zudem grundsätzlich nur die Verwandten in der väterlichen Linie verantwortlich. [...] Hinzu kommt, dass Afghanistan nunmehr eine der weltweit schlimmsten Krisen in Bezug auf Ernährungssicherheit und Unterernährung erlebt und diese Krise in sich steigernder Weise bereits mehre Jahre andauert, was mit der Erschöpfung einer Vielzahl der Ressourcen einhergegangen ist. Es ist nicht anzunehmen, dass die Verwandten des Klägers hiervon verschont worden sind. Außerdem bietet der Kläger als "gescheiterter Exilafghane" (s. o.) keine Vorteile, sondern allenfalls Nachteile für das soziale Netzwerk. [...] Darüber hinaus sehen sich Rückkehrer aus dem westlichen Ausland - wie oben bereits ausgeführt - Gefahren aufgrund einer Vielzahl von Vorbehalten und Vorurteilen gegenüber, die auf ein familiäres Netzwerk abfärben können. [...]