OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 14.10.2022 - 18 B 964/22 - asyl.net: M31245
https://www.asyl.net/rsdb/m31245
Leitsatz:

Weder Fiktionsbescheinigung noch Duldung für Drittstaatsangehörigen aus der Ukraine nach Asylantrag:

1. Die Befreiung vom Erfordernis eines Aufenthaltstitels für Personen aus der Ukraine gemäß § 2 Abs. 1 UkraineAufenthÜV erlischt gemäß § 55 Abs. 2 AsylG mit der Stellung eines Asylantrags.

2. Auch eine Fiktionsbescheinigung wegen eines Antrags auf eine Aufenthaltserlaubnis nach § 24 Abs. 1 AufenthG nach § 81 Abs. 3 S. 1 AufenthG kommt nach Stellung eines Asylantrags nicht in Betracht (§ 55 Abs. 2 S. 1 AsylG). Unerheblich ist insofern, ob die betroffene Person vor dem Asylantrag ordnungsgemäß über diese Folge belehrt wurde, da im Nachhinein keine rechtliche Möglichkeit besteht, entgegen § 55 Abs. 2 S. 1 AsylG eine Fiktionsbescheinigung auszustellen.

3. Einem ghanaischen Staatsangehörigen, der eine Perspektive zur Deckung seiner Grundbedürfnisse und die Möglichkeit der Reintegration in die Gesellschaft hat, ist auch im Hinblick auf einen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 24 Abs. 1 AufenthG keine Duldung zu erteilen.

4. Es bestehen Zweifel, ob Art. 2 Abs. 3 des Durchführungsbeschluss (EU) 2022/382 mit Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie zum vorübergehenden Schutz (RL 2001/55/EG) vereinbar ist. Diese setzt voraus, dass Personen aus demselben Herkunftsland (oder derselben Herkunftsregion) kommen, womit jedenfalls das Land gemeint ist, zu dem Betroffene die engste Bindung haben, während gemäß Durchführungsbeschluss (EU) 2022/382 auch Personen, die nur einen befristeten Aufenthaltstitel in der Ukraine haben, als Begünstigte in Betracht kommen.

(Leitsätze der Redaktion)

Siehe auch:

  • Fragen und Antworten: Perspektiven für nicht-ukrainische Staatsangehörige, die aus der Ukraine geflüchtet sind, asyl.net

Schlagwörter: Ukraine, Drittstaatsangehörige, Fiktionsbescheinigung, Fiktionswirkung, Zumutbarkeit, Ukraine, Drittstaatsangehörige, Richtlinie zum vorübergehenden Schutz, Massenzustromsrichtlinie, Ukraine-Krieg, Asylantrag, Asylantragstellung, Erlöschen, Durchführungsbeschluss, UkraineAufenthÜV, Ukraine-Aufenthalts-Übergangsverordnung
Normen: RL 2001/55/EG Art. 7 Abs. 1, Durchführungsbeschluss (EU) 2022/382 Art. 3 Abs. 2, AufenthG § 24 Abs. 1, AsylG § 55 Abs. 2 S. 1, AufenthG § 60a, UkraineAufenthÜV § 2 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

1. Das Verwaltungsgericht hat den im Beschwerdeverfahren weiterverfolgten Hauptantrag des Antragstellers,

der Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung aufzugeben, ihm eine Fiktionsbescheinigung gemäß § 81 Abs. 3 und Abs. 5 AufenthG zu erteilen,

abgelehnt. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Der Antragsteller habe sich im Zeitpunkt der Beantragung des Aufenthaltstitels mit Schriftsatz vom 4. Juni 2022 nicht mehr erlaubt im Bundesgebiet aufgehalten. Die zunächst für ihn geltende Befreiung vom Erfordernis eines Aufenthaltstitels sei mit der Stellung seines Asylantrags am 6. April 2022 gemäß § 55 Abs. 2 Satz 1 AsylG erloschen.

Das dagegen gerichtete Beschwerdevorbringen greift nicht durch. Der Antragstelier macht insoweit geltend, im Zusammenhang mit der Asylantragstellung seien Belehrungspflichten verletzt worden. Er habe auf die Folgen der Stellung eines Asylantrags für die Fiktionswirkung gemäß § 81 Abs. 3 AufenthG hingewiesen werden müssen. [...]

Der Antragsteller macht der Sache nach einen Folgenbeseitigungsanspruch geltend. Auf dem Gebiet des allgemeinen Verwaltungsrechts kann unrechtmäßiges Verwaltungshandeln oder Unterlassen aber nur im Rahmen zulässigen Verwaltungshandelns ausgeglichen werden. [...]

Das geltende Recht eröffnet der Antragsgegnerin im vorliegenden Fall keine Möglichkeit, dem Antragsteller entgegen § 55 Abs. 2 Satz 1 AsylG eine Fiktionsbescheinigung auszustellen. Denn der Eintritt der Fiktionswirkung ist von gesetzlich geregelten Voraussetzungen abhängig, die hier nicht vorliegen. [...]

2. Der Hilfsantrag,

der Antragsgegnerin gemäß § 123 VwGO aufzugeben, den Antragsteller zu dulden, bis über seinen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 24 Abs. 1 AufenthG entschieden worden ist,

hat ebenfalls keinen Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat zutreffend darauf hingewiesen, dass der Antragsteller einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 24 AufenthG nicht glaubhaft gemacht hat, so dass auch kein Anspruch auf Erteilung einer Duldung besteht. [...]

Gemäß § 24 Abs. 1 AufenthG wird einem Ausländer, dem aufgrund eines Beschlusses des Rates der Europäischen Union gemäß der Richtlinie 2001/55/EG vorübergehender Schutz gewährt wird und der seine Bereitschaft erklärt hat, im Bundesgebiet aufgenommen zu werden, für die nach den Artikeln 4 und 6 der Richtlinie bemessene Dauer des vorübergehenden Schutzes eine Aufenthaltserlaubnis erteilt. [...]

Die Richtlinie sieht in Art. 7 Abs. 1 vor, dass die Mitgliedstaaten den vorübergehenden Schutz über den gemäß Art. 5 Abs. 3 Satz 2 lit. a) der Richtlinie festgelegten Personenkreis hinaus weiteren Gruppen von Vertriebenen gewähren können, sofern sie aus den gleichen Gründen vertrieben wurden und aus demselben Herkunftsland oder derselben Herkunftsregion kommen. [...]

Gemäß der vorgenannten Richtlinie hat der Rat mit Durchführungsbeschluss vom 4. März 2022 infolge der am 24. Februar 2022 begonnenen Invasion der Ukraine durch russische Streitkräfte das Bestehen eines Massenzustroms von Vertriebenen aus der Ukraine festgestellt. [...]

Darüber hinaus weist Art. 2 Abs, 3 des Durchführungsbeschlusses darauf hin, dass die Mitgliedstaaten diesen Beschluss nach Art. 7 der Richtlinie 2001/55/EG auch auf andere Personen, insbesondere Staatenlose und Staatsangehörige anderer Drittländer als der Ukraine anwenden können, die sich rechtmäßig in der Ukraine aufhielten und nicht sicher und dauerhaft in ihr Herkunftsland oder ihre Herkunftsregion zurückkehren können. [...]

Von der durch Art. 2 Abs. 3 des Durchführungsbeschlusses eröffneten Möglichkeit hat die Bundesregierung mit den Umsetzungsrichtlinien des Bundesministeriums des Innern und für Heimat vom 14. März 2022 und den ergänzenden Hinweisen vom 4. April 2022 Gebrauch gemacht. Wie das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt hat, erhalten danach keinen vorübergehenden Schutz u.a. solche Personen, die sicher und dauerhaft in ihr Heimatland zurückkehren können (vgl. Nr. 3 der Anwendungshinweise). [...]

Der Antragsteller stellt mit der Beschwerde den Ansatz des Verwaltungsgerichts nicht infrage, dass es für die Annahme einer dauerhaften Rückkehr auf die Möglichkeit der Inanspruchnahme aktiver Rechte im Herkunftsland ankomme, damit der Betreffende Perspektiven für die Deckung seiner Grundbedürfnisse in seinem Herkunftsland und die Möglichkeit einer Reintegration in die Gesellschaft habe. Er legt aber nicht dar, weshalb er diese Möglichkeit in Ghana nicht hat. Der fehlende Wille, nach Ghana zurückzukehren, schließt eine sichere und dauerhafte Rückkehr von vornherein nicht aus. [...]

Angesichts des Umstandes, dass der Antragsteller, dessen Asylantrag zudem abgelehnt worden ist, nach seinem eigenen Vorbringen in Ghana gearbeitet hat und neben seiner Mutter, einer Schwester, Tanten und Onkeln noch über die weitere Familie verfügt, ist nichts dafür ersichtlich, dass er keine Perspektive für die Deckung seiner Grundbedürfnisse in seinem Heimatland und keine Möglichkeit der Reintegration in die Gesellschaft hätte. [...]

Nach dem Vorstehenden kann offenbleiben, ob Art. 2 Abs. 3 des Durchführungsbeschlusses, an den die Anwendungshinweise des BMI anknüpfen, im Einklang mit Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie steht. Hieran bestehen nämlich aus folgenden Gründen gewichtige Zweifel:

Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie setzt voraus, dass die dort geregelten Gruppen non Vertriebenen aus den gleichen Gründen vertrieben wurden und aus demselben Herkunftsland oder derselben Herkunftsregion kommen wie die von dem Beschluss des Rates nach Art. 5 der Richtlinie erfassten Vertriebenengruppen. Für die danach aufgeführten Vertriebenengruppen kann die Ukraine als Herkunftsland angesehen werden. Dies gilt ohne weiteres für Ukrainer (Art. 2 Abs. 1a) des Durchführungsbeschlusses aber auch für Staatenlose oder Staatsangehörige anderer Drittländer als der Ukraine, die in der Ukraine vor dem 24. Februar 2022 internationalen oder einen gleichwertigen nationalen Schutz genossen haben (Art. 2 Abs. 1 b) des Durchführungsbeschlusses). Vertretbarer Weise kann auch für die Familienangehörigen der vorgenannten Personengruppen (Art. 2 Abs. 1 c) des Durchführungsbeschlusses) davon ausgegangen werden, dass sie deren Herkunftsland Ukraine teilen. Schließlich kann auch hinsichtlich der in Art. 2 Abs. 2 des Durchführungsbeschlusses genannten Personengruppen angenommen werden, dass die Ukraine ihr Herkunftsland ist. [...]

Ist damit die Ukraine das Herkunftsland der von dem Durchführungsbeschluss nach Art. 5 der Richtlinie erfassten Vertriebenengruppen, können die Mitgliedstaaten nach Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie den fakultativen vorübergehenden Schutz nur Vertriebenengruppen gewähren, deren Herkunftsland ebenfalls die Ukraine ist. Herkunftsland oder Herkunftsregion eines Vertriebenen in diesem Sinne ist aber nicht etwa das Land, aus dem er zuletzt ausgereist ist. Vielmehr ist darunter entweder das Land der Staatsangehörigkeit oder jedenfalls das Land zu verstehen, zu dem der Betreffende die engste Bindung hat. Dieses sich aufdrängende Verständnis liegt auch der oben zitierten Mitteilung der Kommission zugrunde. Die wiedergegebene Passage lässt den Umkehrschluss zu, dass nach Auffassung der Kommission der Besitz eines lediglich befristeten Aufenthaltstitels in einem Drittland grundsätzlich noch nicht dazu führt, dass dieses als Herkunftsland oder Herkunftsregion des Ausländers anzusehen ist. Davon ausgehend ist der Hinweis in Art. 2 Abs. 3 des Durchführungsbeschlusses unzutreffend, nach Art. 7 der Richtlinie 2001/55/EG könnten die Mitgliedstaaten den Durchführungsbeschluss auch auf andere Personen, insbesondere Staatenlose und Staatsangehörige anderer Drittländer als der Ukraine anwenden, die sich rechtmäßig in der Ukraine aufhielten und nicht sicher und dauerhaft in das Herkunftsland oder ihre Herkunftsregion zurückkehren könnten. Selbst wenn diese Person nicht sicher und dauerhaft in ihr Herkunftsland oder ihre Herkunftsregion zurückkehren können, dürfte das noch nicht dazu führen, dass dann die Ukraine als ihr Herkunftsland anzusehen ist. Sollte der Durchführungsbeschluss von Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie abweichen, dann dürfte er insoweit unwirksam sein. Der Durchführungsbeschluss ist nämlich in der Normenhierarchie des Unionsrechts unterhalb der Richtlinie anzusiedeln und im Einklang mit dieser auszulegen. [...]