OLG Hamm

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Zitieren als:
OLG Hamm, Beschluss vom 19.05.2022 - III-2 Ausl 180/20 - asyl.net: M31242
https://www.asyl.net/rsdb/m31242
Leitsatz:

Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH zur Frage einer Auslieferung nach einer bestandskräftigen Flüchtlingsanerkennung:

Das vorlegende Gericht will wissen, ob die bestandskräftige Anerkennung einer Person als Flüchtling in einem anderen EU-Mitgliedstaat in der Weise verbindlich ist, dass damit zwingend eine Auslieferung der Person an den Herkunftsstaat oder einen Drittstaat ausgeschlossen ist, bis die Flüchtlingsanerkennung wieder aufgehoben oder zeitlich abgelaufen ist.

(Leitsätze der Redaktion; siehe: BVerfG, Beschluss vom 30.03.2022 - 2 BvR 2069/21 (Asylmagazin 10-11/2022, S. 382 ff.) - asyl.net: M30621)

Schlagwörter: Auslieferung, Flüchtlingsanerkennung, internationaler Schutz in EU-Staat, schwere nichtpolitische Straftat,
Normen: AsylG § 6 S. 2, EuAlÜbk Art. 3 Abs. 2, IRG § 13 Abs. 1 Satz 2, IRG § 33, IRG § 6 Abs. 2, EMRK Art. 5, EMRK Art. 6, AEUV Art. 267, BVerfGG § 31 Abs. 1, GFK Art. 33, RL 2013/32/EU Art. 9 Abs. 2, RL 2013/32/EU Art. 9 Abs. 3, RL 2011/95/EU Art. 21 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

2. Dem Europäischen Gerichtshof wird gemäß Art. 267 AEUV folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Ist Art. 9 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (Asyl-VRL) in Verbindung mit Art. 21 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 (QualifikationsRL) dahin auszulegen, dass die bestandskräftige Anerkennung einer Person als Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union für das Auslieferungsverfahren in dem um Auslieferung einer solchen Person ersuchten Mitgliedstaat aufgrund der unionsrechtlichen Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung nationalen Rechts (Art. 288 Abs. 3 AEUV und Art. 4 Abs. 3 AEUV) in der Weise verbindlich ist, dass damit eine Auslieferung der Person an den Drittstaat oder Herkunftsstaat zwingend ausgeschlossen ist, bis die Anerkennung als Flüchtling wieder aufgehoben oder zeitlich abgelaufen ist? [...]

Der Verfolgte ist türkischer Staatsangehöriger, Kurde und war im Jahr 2010 aus der Türkei ausgereist und hatte in Italien um politisches Asyl gebeten. Die territoriale Kommission in Turin hat den Verfolgten mit bestandskräftigem Bescheid vom 19. Mai 2010 nach persönlicher Anhörung aufgrund eines entsprechenden Antrages des Verfolgten, der geltend gemacht hatte, wegen angeblicher Unterstützung der PKK von den türkischen Behörden politisch verfolgt zu werden, als Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt. Er ist im Besitz eines von den italienischen Behörden ausgestellten Flüchtlingsausweises, der bis zum 25. Juni 2030 gültig ist. Der Verfolgte hält sich seit Juli 2019 dauerhaft in der Bundesrepublik Deutschland auf.

Die türkischen Behörden haben den Verfolgten über Interpol zur Festnahme zum Zwecke der Auslieferung zur Strafverfolgung wegen Totschlags u.a. ausgeschrieben. Der Ausschreibung liegt der Haftbefehls des Bingöl 1. High Criminal Court vom ... 2020 (Aktenzeichen: ...) zugrunde. [...]

5 Mit Beschluss vom 2. November 2021 hat der Senat die Auslieferung des Verfolgten in die Türkei zur Strafverfolgung für zulässig erklärt und die Fortdauer der Auslieferungshaft angeordnet. Dabei hat der Senat unter anderem ausgeführt, dass ein Auslieferungshindernis gemäß § 6 Abs. 2 des Gesetzes über die Internationale Rechtshilfe in Strafsachen (lRG), Art. 3 Abs. 1 und 2 des Europäischen Auslieferungsübereinkommens (EuAlÜbk) nicht vorliege. Das Vorbringen des Verfolgten sowie die von ihm eingereichten Unterlagen und die dem Senat vorliegenden Erkenntnisse aus dem italienischen Asylverfahren würden keine ernstlichen Gründe für die Annahme ergeben, dass das Auslieferungsersuchen wegen einer nicht politischen strafbaren Handlung gestellt worden sei, um den Verfolgten aus auf politischen Anschauungen beruhenden Erwägungen zu verfolgen oder zu bestrafen (Art. 3 Abs. 2 1. Alt. EuAlÜbk) oder dass der Verfolgte im Falle der Überstellung der Gefahr einer Erschwerung seiner Lage aus solchen Gründen ausgesetzt wäre (Art. 3 Abs. 2 2. Alt. EuAlÜbk).

6 Hinsichtlich der Anerkennung des Verfolgten durch die italienischen Behörden als Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention hat der Senat ausgeführt, dass durch diese Anerkennung kein generelles Auslieferungsverbot begründet worden sei. [...] Entscheidungen der Verwaltungsbehörden und -gerichte hätten für das Auslieferungsverfahren, wie sich aus § 6 S. 2 Asylgesetz (AsylG) ergebe, keine Bindungswirkung, ihnen komme jedoch für die eigenständige Prüfung der Voraussetzungen des § 6 Abs. 2 IRG und des Art. 3 Abs. 2 EuAlÜbk im Auslieferungsverfahren eine Indizwirkung zu.

7 Der Senat hat dann eine eigene, auf die Person des Verfolgten bezogene Gefahrenprognose hinsichtlich der Situation im Zielstaat - der Republik Türkei - angestellt und danach unter Berücksichtigung des Vorbringens des Verfolgten in dem italienischen Asylverfahren - welches dem Senat durch übermittelte Schriftstücke aus dem dortigen Verfahren bekannt war - sowie im hiesigen Auslieferungsverfahren im einzelnen dargelegt, dass die Zusicherung der türkischen Behörden mit Verbalnote vom 9. Februar 2021, dass in dem gegen den Verfolgten im Falle seiner Auslieferung geführten Verfahren die sich aus Art. 5 und 6 EMRK ergebenden Standards - und damit auch ein faires Verfahren - gewährleistet werden, als belastbar einzustufen sei. Eine ernsthafte, konkrete Gefahr für den Verfolgten, im Falle seiner Auslieferung in die Türkei dort einer politischen Verfolgung i.S.v. § 6 Abs. 2 IRG, Art. 3 Abs. 2 EuAlÜbk ausgesetzt zu sein, bestehe nicht. [...]

9 Der Verfolgte hat gegen die Entscheidung des Senats vom 2. November 2021 Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht erhoben. Mit Beschluss vom 30. März 2022 (Az.:2 BvR 2069/21) hat das Bundesverfassungsgericht den Senatsbeschluss vom 2. November 2021, soweit darin die Auslieferung für zulässig erklärt wurde, aufgehoben und die Sache insoweit an den Senat zurückverwiesen. Im Übrigen hat es die Verfassungsbeschwerde des Verfolgten nicht zur Entscheidung angenommen.

Zur Begründung seiner Aufhebungsentscheidung hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 30. März 2022 mit näheren Darlegungen ausgeführt, dass der Senat das Grundrecht des Verfolgten aus Art. 101 Abs. 1 S. 2 Grundgesetz (GG), wonach niemand seinem gesetzlichen Richter entzogen werden dürfe, dadurch verletzt habe, dass er die hier aufgeworfene, entscheidungserhebliche und ungeklärte Frage des Unionsrechts, ob die bestandskräftige Anerkennung des Verfolgten als Flüchtling durch die italienischen Behörden am 19. Mai 2010 für das Auslieferungsverfahren in der Bundesrepublik Deutschland aufgrund der unionsrechtlichen Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung des nationalen Rechts (Art. 288 Abs. 3 AEUV und Art. 4 Abs. 3 EUV) verbindlich ist und damit einer Auslieferung des Verfolgten in die Türkei zwingend entgegensteht, entgegen Art. 267 Abs. 3 AEUV nicht dem Europäischen Gerichtshof zur Entscheidung vorgelegt habe. [...]

11 1. Da das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 30. März 2022 den nach § 13 Abs. 1 S. 2 IRG unanfechtbaren Senatsbeschluss vom 2. November 2021 insoweit aufgehoben hat, als die Auslieferung des Verfolgten für zulässig erklärt worden ist, ist gemäß § 33 IRG erneut über die Zulässigkeit der Auslieferung zu entscheiden.

12 2. Der Senat bittet in diesem Zusammenhang den Gerichtshof um Beantwortung der eingangs formulierten Vorlagefrage. [...]

14 Da die Zulässigkeitsvoraussetzungen nach dem EuAlÜbk vorliegen, keine sonstigen Auslieferungshindernisse gegeben sind und dem Verfolgten nach der Überzeugung des Senats in der Türkei keine politische Verfolgung droht, so dass auch das sogenannte Refoulement-Verbot aus Art. 33 des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (Genfer Flüchtlingskonvention) der Auslieferung nicht entgegensteht, hängt die Zulässigkeit der Auslieferung des Verfolgten davon ab, ob die bestandskräftige Anerkennung des Verfolgten als Flüchtling durch die italienischen Behörden am 19. Mai 2010 für das Auslieferungsverfahren in der Bundesrepublik Deutschland aufgrund der unionsrechtlichen Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung nationalen Rechts (Art. 288 Abs. 3 AEUV und Art 4 Abs. 3 EUV) verbindlich ist und damit einer Auslieferung in die Türkei zwingend entgegensteht, bis die Anerkennung als Flüchtling wieder aufgehoben oder zeitlich abgelaufen ist.

Wäre die italienische Asylentscheidung für das hier geführte Auslieferungsverfahren verbindlich, so läge aufgrund der dann anzunehmenden politischen Verfolgung des Verfolgten ein Auslieferungshindernis gemäß § 6 Abs. 2 lRG, Art. 3 Abs. 2 EuAlÜbk vor und die Auslieferung des Verfolgten wäre für unzulässig zu erklären und der förmliche Auslieferungshaftbefehl des Senats vom 23. Dezember 2020 aufzuheben.

15 4. Die Vorlagefrage ist im Schrifttum umstritten und in der nationalen Rechtsprechung - das Bundesverfassungsgericht hat in einer Entscheidung vom 13. April 1983 (1 BvR 866/82, 1 BvR 890/82) die Frage einer möglichen Bindungswirkung bei einer bestandskräftigen Anerkennung als Flüchtling ausdrücklich offen gelassen - sowie in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union bislang noch nicht geklärt. [...]

21 5. Der Senat hält nach derzeitiger rechtlicher Bewertung an seiner der Zulässigkeitsentscheidung vom 2. November 2021 zugrunde liegenden Auffassung fest, dass die bestandskräftige Anerkennung des Verfolgten als Flüchtling durch die italienischen Behörden für das vorliegende Auslieferungsverfahren nicht verbindlich ist und damit einer Auslieferung des Verfolgten nicht zwingend entgegensteht und dass dem Verfolgten nach Würdigung aller bislang bekannten Umstände im Falle der Auslieferung an seinen Herkunftsstaat dort keine politische Verfolgung droht, so dass ein Auslieferungshindernis gemäß § 6 Abs. 2 IRG, Art. 3 Abs. 2 EuAlÜbk nicht gegeben ist.

22 a) Gegen eine solche Verbindlichkeit und damit auslieferungsrechtliche Sperrwirkung der italienischen Asylentscheidung spricht aus Sicht des Senats entscheidend, dass sich der Regelung in Art. 7 Abs. 2 Asyl-VRL a.F. als auch in Art. 9 Abs. 2 Asyl-VRL entnehmen lässt, dass es sich bei dem Asyl-und dem Auslieferungsverfahren um voneinander unabhängige, selbständige Verfahren handelt. Weder die Asylverfahrensrichtlinie noch die sog. Qualifikationsrichtlinie enthalten ausdrückliche Bestimmungen, welche eine Bindungswirkung normieren.

23 b) Darüber hinaus kann zwischen der Anerkennung der verfolgten Person als Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention und der Einleitung des Auslieferungsverfahrens, ein langer Zeitraum - so wie auch vorliegend - verstrichen sein, in dem sich die für die Asylanerkennung maßgeblichen Umstände geändert haben können. Wäre im Rahmen der Prüfung der Zulässigkeit der Auslieferung durch den ersuchten Mitgliedstaat die bestandskräftige Anerkennung des Verfolgten als Flüchtling in einem anderen EU-Mitgliedstaat - hier Italien - verbindlich, so müsste bei Bekanntwerden neuer Umstände, die eine abweichende Beurteilung der Frage der politischen Verfolgung rechtfertigen, ein zeitaufwendiges Aberkennungsverfahren in dem anderen EU-Mitgliedstaat - hier Italien - durchgeführt werden. Dies wäre jedoch, da sich die verfolgte Person in der Regel in Auslieferungshaft befindet, mit dem in Haftsachen geltenden Beschleunigungsgrundsatz kau m zu vereinbaren.

24 c) Schließlich ist aus Sicht des Senats eine Auslieferung des Verfolgten trotz bestandskräftiger Anerkennung als Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention in den Herkunftsstaat, einen Drittstaat, zulässig, soweit diese Auslieferung - wie vorliegend - nicht gegen Völkerrecht und Unionsrecht (insbesondere Art. 18 und Art. 19 Abs. 2 GRCh) verstößt. [...] Wäre die Auslieferung zur Strafverfolgung aufgrund einer Verbindlichkeit der Asylanerkennung ohne weitere Prüfung zwingend unzulässig, so hätte dies in den meisten Fällen praktisch die Straflosigkeit der verfolgten Person zur Folge. Zwar könnte in der Bundesrepublik Deutschland gegen den Verfolgten gemäß § 7 Abs. 2 Nr. 2 Strafgesetzbuch (StGB) - theoretisch - ein Strafverfahren eingeleitet werden. Praktisch ließe sich dieses aber nicht durchführen, da sich die Beweismittel - unter anderem Zeugen - in der Türkei befinden bzw. aufhalten und deren Beschaffung durch die deutschen Strafverfolgungsbehörden bzw. eine Vernehmung der Zeugen in der Türkei letztlich nicht realisierbar ist. [...]