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VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 23.11.2022 - 12 S 3213/21 - asyl.net: M31238
https://www.asyl.net/rsdb/m31238
Leitsatz:

Zur Frage der Ermächtigungsgrundlage für die Anordnung der Herausgabe von Datenträgern nach Abschluss des Asylverfahrens:

1. Die Frage, welche Ermächtigungslage die Ausländerbehörde dazu ermächtigt, gegenüber einem abgelehnten Asylbewerber die Herausgabe von Datenträgern und Zugangsdaten zu verlangen, wirft schwierige und bislang ungeklärte Rechtsfragen auf. Insbesondere ist zu klären, ob sich Ausländerbehörden hierfür auf § 15 Abs. 2 Nr. 6 i.V.m. § 15a AsylG oder auf § 48 Abs. 3, Abs. 3a AufenthG berufen können.

2. Die Erfolgsaussichten der Beschwerde sind deshalb offen. Dem Eilantrag ist stattzugeben, da dem Interesse am Schutz des Persönlichkeitsrechts der betroffenen Person gegenüber dem staatlichen Interesse an der Informationsgewinnung zum Zwecke der Abschiebung der Vorrang einzuräumen ist.

(Leitsätze der Redaktion; siehe zur Situation während des Asylverfahrens: VG Berlin, Urteil vom 01.06.2021 - 9 K 135/20.A (Asylmagazin 9/2021, S. 338 f.) - asyl.net: M29743)

Schlagwörter: Herausgabe von Datenträgern, Ausreisepflicht, Rechtsgrundlage, Datenträger, Smartphone, Auslesen von Datenträgern, Auslesen von Smartphones, Datenschutz, Identitätsfeststellung, Anordnung, Mitwirkungspflicht, Handydaten,
Normen: AsylG § 15a Abs. 1, AsylG § 15 Abs. 2 Nr. 6, AufenthG § 48 Abs. 3, AufenthG § 48 Abs. 3a, GG Art. 2 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Das Verwaltungsgericht hat entschieden, dass die angefochtene Verfügung nur auf §§ 15, 15a AsylG gestützt werden könne, ein Austausch der Ermächtigungsgrundlage aber nicht in Frage komme, weil das Regierungspräsidium Tübingen für den Erlass von Anordnungen zur Herausgabe von Datenträgern und Zugangsdaten nach §§ 15, 15a AsylG nicht zuständig sei. Für Maßnahmen und Entscheidungen zur Beendigung des Aufenthaltes bei abgelehnten Asylbewerbern begründe vielmehr § 8 Abs. 1 Nr. 1 AAZuVO eine landesweite Zuständigkeit des Regierungspräsidiums Karlsruhe.

Die Beschwerde zieht nicht in Zweifel, dass der Antragsteller, dessen Asylantrag mit Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) vom 15.03.2019 abgelehnt und dessen dagegen gerichtete Klage vom Verwaltungsgericht Sigmaringen mit Urteil vom 30.04.2021 abgewiesen worden ist (rechtskräftig seit dem 20.07.2021), ein abgelehnter Asylbewerber im Sinne von § 8 Abs. 1 Nr. 1 AAZuVO ist. Ebenso wenig stellt sie in Abrede, dass das Regierungspräsidium Tübingen für Anordnungen nach §§ 15, 15a AsylG sachlich nicht zuständig ist, weil insoweit gemäß § 8 Abs. 1 Nr. 1 AAZuVO eine landesweite Zuständigkeit des Regierungspräsidiums Karlsruhe besteht. Sie macht jedoch geltend, dass in Bezug auf die Anordnung der Herausgabe von Datenträgern und Zugangsdaten neben § 15 AsylG auch § 48 Abs. 3 und Abs. 3a AufenthG anwendbar und insoweit gemäß § 6 Abs. 5 Nr. 2 AAZuVO das Regierungspräsidium Tübingen neben dem Regierungspräsidium Karlsruhe sachlich zuständig sei. [...]

Das Verwaltungsgericht sieht § 15 Abs. 2 Nr. 6 i.V.m. § 15a AsylG in der Fassung des Art. 2 Nr. 3 und 4 des Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht vom 20.07.2017 (BGBl. I S. 2780) unter Hinweis auf den Beschluss des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 26.08.2020 - 10 K 1841/20 - (veröffentlicht in juris) im Fall von rechtskräftig abgelehnten Ausländern als lex specialis und daher vorrangige Ermächtigungsgrundlage an (ebenso VG Freiburg, Beschluss vom 26.08.2020 - 10 K 1841/20 -, juris Rn. 4; Barrón in: Hailbronner, Ausländerrecht, § 74 Rn. 8; Funke-Kaiser in: GK-AsylG § 15 Rn. 11 <Stand: 3/2018>; Putzar-Sattler in: Huber/Mantel, AufenthG/AsylG, 3. Auflage 2021, § 15 AsylG Rn. 8 ff.; a.A. VG Augsburg, Urteil vom 02.03.2022 - Au 6 K 21.2174 -, juris Rn. 6; Marx, Ausländer- und Asylrecht, 4. Auflage 2020, § 11 Rn. 25; Houben in: BeckOK, Ausländerrecht, § 15 AsylG Rn. 18a ff.). Nach diesen Vorschriften sind Ausländer persönlich verpflichtet, im Falle des Nichtbesitzes eines gültigen Passes oder Passersatzes an der Beschaffung eines Identitätspapiers mitzuwirken und auf Verlangen alle Datenträger, die für die Feststellung seiner Identität und Staatsangehörigkeit von Bedeutung sein können und in deren Besitz er ist, den mit der Ausführung dieses Gesetzes betrauten Behörden vorzulegen, auszuhändigen und zu überlassen. § 15a Abs. 1 AsylG regelt, dass die Auswertung von Datenträgern nur zulässig ist, soweit dies für die Feststellung der Identität und Staatsangehörigkeit des Ausländers nach § 15 Abs. 2 Nr. 6 AsylG erforderlich ist und der Zweck der Maßnahme nicht durch mildere Mittel erreicht werden kann. [...]

Die Frage, ob § 15 Abs. 2 Nr. 6 i.V.m. § 15a AsylG gegenüber § 48 Abs. 3 und Abs. 3a AufenthG die speziellere Vorschrift ist, ist im Rahmen des vorliegenden Verfahrens nicht zu klären. Abzulehnen ist allerdings bereits aufgrund summarischer Prüfung die Auffassung des Antragsgegners, dass den Ausländerbehörden ein Wahlrecht zustünde, welche Ermächtigungsgrundlage sie für die Anordnung der Herausgabe von Datenträgern und Zugangsdaten im Falle von abgelehnten Asylbewerbern heranziehen. [...]

Die Antwort auf die sich danach stellende Frage, welche Ermächtigungsgrundlage heranzuziehen ist, wenn die Ausländerbehörde gegenüber einem abgelehnten Asylbewerber die Herausgabe von Datenträgern und Zugangsdaten anordnen will, wirft schwierige und bislang ungeklärte Auslegungsfragen auf. [...]

Für die Annahme, dass die Anordnung der Herausgabe von Datenträgern und Zugangsdaten im Falle von abgelehnten Asylbewerbern durch die Ausländerbehörden auf die asylrechtliche Ermächtigungsgrundlage des § 15 Abs. 2 Nr. 6 AsylG zu stützen ist, könnte vor allem der Beschleunigungszweck sprechen, den der Gesetzgeber bei abgelehnten Asylbewerbern mit den speziellen asylrechtlichen Regelungen der § 11, §§ 74 ff., § 80 AsylG verfolgt. Würde die Anordnung der Herausgabe von Datenträgern und Zugangsdaten von der Ausländerbehörde auf § 48 Abs. 3 AufenthG gestützt, käme ein abgelehnter Asylbewerber in den Genuss der allgemeinen prozessualen Rechtschutzmöglichkeiten, insbesondere der aufschiebenden Wirkung seiner Klage (§ 80 Abs. 1 VwGO) und der Beschwerde (§§ 146 ff. VwGO). Damit wäre ein abgelehnter Asylbewerber, dessen Aufenthalt im Bundesgebiet illegal ist, erheblich besser gestellt als ein Asylbewerber im noch laufenden Asylverfahren, obwohl dieser im Besitz einer Aufenthaltsgestattung ist (vgl. OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 24.01.2007 - 6 E 11489/06 -, juris Rn. 5; Hofmann, Ausländerrecht, 2. Auflage 2016, § 15 AsylVfG Rn. 30). [...]

Problematisch ist allerdings, dass § 15a Abs. 2 AsylG die Zuständigkeit für die Auswertung der Datenträger allein dem Bundesamt zuspricht. Die Ermächtigung der Ausländerbehörden, von abgelehnten Asylbewerbern nach § 15 Abs. 2 Nr. 6 AsylG die Herausgabe von Datenträgern und Zugangsdaten zu verlangen, könnte weitgehend leerlaufen, wenn sie anschließend nicht befugt wären, diese auch auszuwerten. Zudem erlaubt der Wortlaut des § 15a AsylG die Auswertung nur zu dem Zweck der Feststellung seiner Identität und Staatsangehörigkeit, also den Zwecken, die vor allem für das Bundesamt im Rahmen des Anerkennungsverfahrens von Bedeutung sind, nicht aber zur Feststellung und Geltendmachung einer Rückführungsmöglichkeit in einen anderen Staat, einem Zweck, der primär in der nachfolgenden Vollzugsphase eine erhebliche Rolle spielt. Ob insoweit eine teleologische Reduktion in Betracht zu ziehen sein könnte, wie sie das Verwaltungsgericht Freiburg angedeutet hat (Beschluss vom 26.08.2020 - 10 K 1841/20 -, juris Rn. 12), ist eine Frage grundsätzlicher Natur, die im vorliegenden Verfahren ebenfalls nicht geklärt werden kann. Das Verwaltungsgericht plädiert dafür, den Geltungsbereich des § 15a AsylG auf die Dauer des Asylverfahrens beim Bundesamt, also auf das eigentliche Anerkennungsverfahren zu beschränken. [...]

Bei einer Heranziehung von § 48 Abs. 3a AufenthG stellt sich das Problem, dass eine Auswertung der Datenträger nach § 48 Abs. 3a AufenthG auch zum Zweck der Feststellung und Geltendmachung einer Rückführungsmöglichkeit in einen anderen Staat zulässig wäre, während die vorangehende Herausgabe nach § 15 Abs. 2 Nr. 6 AsylG auf die Zwecke der Feststellung von Identität und Staatsangehörigkeit beschränkt ist. [...] Vor dem Hintergrund, dass mit der Auswertung der herausverlangten Datenträger zum einen ein besonders intensiver Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht in seiner Ausprägung als Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung bzw. auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme einhergeht, [...] zum anderen häufig - nicht allein, aber auch - der Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung berührt sein wird, [...] bedarf vor allem die Frage einer gründlichen Prüfung, ob die erweiterte Anwendung einer Befugnisnorm den verfassungsrechtlichen Anforderungen, insbesondere an die hinreichende Bestimmtheit und Begrenzung einer Norm, gerecht würde. [...]

b) Stellen sich die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens somit wegen der aufgezeigten ungeklärten rechtlichen Fragen als offen dar, so sind allein die einander gegenüberstehenden Interessen unter Berücksichtigung der mit der Anordnung oder Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung einerseits und deren Ablehnung andererseits verbundenen Folgen zu gewichten.

Das Verwaltungsgericht hat zu Recht angenommen, dass die Folgen, die einträten, wenn der Antragsteller verpflichtet würde, die in seinem Besitz befindlichen Datenträger und die erforderlichen Zugangsdaten dem Antragsgegner zum Zweck der Auswertung auszuhändigen und zu überlassen, sich aber nachträglich herausstellen würde, dass die Anordnung hätte aufgehoben werden müssen, deutlich gravierender sind, als die Folgen, die sich ergeben würden, wenn dem Rechtsschutzbegehren des Antragstellers stattgegeben würde und sich später herausstellte, dass die Herausgabeanordnung rechtmäßig ist. [...]