VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 06.12.2022 - 12 S 2546/22 - asyl.net: M31237
https://www.asyl.net/rsdb/m31237
Leitsatz:

Kein Anspruch auf Rückholung wegen Bindungswirkung von BAMF-Entscheidungen:

1. Im Fall der Rechtswidrigkeit einer Abschiebung kann Betroffenen gegenüber der zuständigen Ausländerbehörde ein Folgenbeseitigungsanspruch zustehen, wonach sie unverzüglich zurückzuholen sind. Zur Geltendmachung dieses Anspruchs im einstweiligen Rechtsschutz müssen jedenfalls die Rechtswidrigkeit der Abschiebung und die Rechtswidrigkeit des geschaffenen Zustands mit hoher Wahrscheinlichkeit feststehen. Letzteres ist nicht der Fall, wenn die betroffene Person unmittelbar nach ihrer Rückholung wieder ausreisen müsste, weil kein Aufenthalts- oder Bleiberecht besteht.

2. Eine Entscheidung des BAMF, wonach keine (zielstaatsbezogenen) Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG vorliegen, bindet die für die Abschiebung zuständige Ausländerbehörde auch bei einer nachträglichen Änderung der Sachlage. Änderungen der Sachlage bezüglich § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG sind dann gegenüber dem BAMF geltend zu machen.

3. Eine Risikoschwangerschaft führt als inlandsbezogenes Abschiebungshindernis gemäß § 60a Abs. 2 S. 1 AufenthG zu einem Anspruch auf Duldung gegenüber der Ausländerbehörde.

4. Entziehen sich Familienangehörige einer Abschiebung in dem Wissen, dass andere Familienangehörige auch ohne sie abgeschoben werden, ist das eine freiwillige, persönliche Entscheidung, die sich die Familie grundsätzlich insgesamt zurechnen lassen muss.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Malta, internationaler Schutz in EU-Staat, Abschiebung, Überstellung, Folgenbeseitigungsanspruch, Familientrennung, Zurückholung, Rückholung, getrennte Abschiebung, Schwangerschaft, Schutz von Ehe und Familie, Familienangehörige, Rechtswidrigkeit der Abschiebung, einstweilige Anordnung, vorläufiger Rechtsschutz, Risikoschwangerschaft,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, AufenthG § 60a Abs. 2 S. 1, AsylG § 42 S. 1, RL 2008/115/EG Art. 5, RL 2008/115/EG Art. 9, GR-Charta Art. 4, EMRK Art. 3, VwGO § 123
Auszüge:

[...]

Der Antragsgegner hat die Beschwerde gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Sigmaringen vom 01.12.2022, mit dem er verpflichtet wird, den Antragstellern die Wiedereinreise in die Bundesrepublik Deutschland rechtlich und tatsächlich und auf seine Kosten unverzüglich, bis spätestens zum 07.12.2022 zu ermöglichen, unter dem 02.12.2022 eingelegt und begründet. [...]

Die zulässige Beschwerde des Antragsgegners ist begründet.

Das Verwaltungsgericht hat angenommen, dass die am 21.11.2022 erfolgte Abschiebung der Antragsteller - der im Jahre 1984 geborenen und mit errechnetem Entbindungstermin ... 2023 schwangeren Antragstellerin zu 1 sowie ihrer in den Jahren 2010, 2013 und 2017 geborenen Kinder, syrischer Staatsangehöriger - nach Malta wegen der ihnen dort drohenden Gefahr einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung offensichtlich rechtswidrig gewesen sei. Dies gelte auch mit Blick darauf, dass sich der Ehemann der Antragstellerin zu 1 und Vater der Antragsteller zu 2 bis 4 mit weiteren drei Kindern (geboren 2007, 2012 und 2015) der ebenfalls am 21.11.2022 vorgesehenen Abschiebung mit großer Wahrscheinlichkeit durch Untertauchen entzogen habe, nachdem zunächst seine Frau und drei der Kinder zum Flughafen ... gefahren worden seien, und dass dieser es ohne weiteres in der Hand habe, durch Erfüllung der Ausreisepflicht und der Rückkehr nach Malta eine Situation herbeizuführen, die nicht mehr von Vulnerabilität der Antragsteller geprägt sei (vgl. im Einzelnen BA S. 5 bis 15).

Ausgehend von den in der Beschwerdebegründung dargelegten Gründen (§ 146 Abs. 4 Sätze 1, 3 und 6 VwGO) ist der Auffassung des Verwaltungsgerichts, den Antragstellern stehe ein Anordnungsanspruch nach § 123 Abs. 1 VwGO zu, der darauf gerichtet ist, ihnen im Wege eines Folgenbeseitigungsanspruchs die Wiedereinreise in die Bundesrepublik Deutschland zu ermöglichen, weil die Abschiebung unter Verstoß gegen ein offensichtliches Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK erfolgt sei, mit Blick auf die sich aus § 42 Satz 1 AsylG ergebende Bindungswirkung auch für negative Feststellungen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) nicht zu folgen (I.). Der Beschluss des Verwaltungsgerichts ist auch nicht aus anderen Gründen richtig (II.).

I. Das Verwaltungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass im Fall der Rechtswidrigkeit einer Abschiebung dem Betroffenen ein Folgenbeseitigungsanspruch zur Seite stehen kann. Dieser auf der Bindung der vollziehenden Gewalt an Recht und Gesetz nach Art. 20 Abs. 3 GG beruhende Anspruch ist gegeben, wenn durch einen hoheitlichen Eingriff in ein subjektives Recht des Betroffenen ein auch weiterhin noch andauernder rechtswidriger Zustand entstanden ist [...]. In einem solchen Fall kann der Betroffene verlangen, dass der rechtmäßige Zustand wiederhergestellt wird, der unverändert bestünde, wenn der rechtswidrige Eingriff nicht erfolgt wäre [...]. Der Ausgleich unrechtmäßigen Handelns im Wege eines Folgenbeseitigungsanspruchs kann jedoch nur im Rahmen eines zulässigen Verwaltungshandelns erfolgen, sofern die Folgenbeseitigung auch rechtlich und tatsächlich möglich ist. Müsste der Ausländer nach der Ermöglichung der erneuten Einreise unmittelbar wieder ausreisen, weil er kein Aufenthalts- oder auch nur ein Bleiberecht hat, greift der Folgenbeseitigungsanspruch nicht. Wäre der Betroffene unmittelbar mit der Einreise wieder vollziehbar ausreisepflichtig, so steht der Geltendmachung eines Folgenbeseitigungsanspruchs der Einwand der unzulässigen Rechtsausübung (§ 242 BGB) entgegen [...].

1. Ob eine entsprechende Verpflichtung des Antragsgegners nach § 123 VwGO, eine Abschiebung rückgängig zu machen, d.h. die Wiedereinreise zu ermöglichen, eine Vorwegnahme der Hauptsache darstellt [...] oder ob dies zu verneinen ist, weil lediglich vorübergehend der status quo wiederhergestellt wird, der im Fall des unanfechtbaren (negativen) Abschlusses des Hauptsacheverfahrens wieder rückabgewickelt und der geregelte Zustand durch eine Wiederausreise für die Zukunft rückgängig gemacht werden kann [...], bedarf keiner Entscheidung. Auch wenn man nicht von einer endgültigen Vorwegnahme der Hauptsache ausgeht, sind gleichwohl nicht zu geringe Anforderungen an die Glaubhaftmachung des Anordnungsanspruchs zu stellen [...]. Sowohl die Rechtswidrigkeit der Abschiebung als auch die Rechtswidrigkeit des geschaffenen Zustands müssen mit hoher Wahrscheinlichkeit feststehen.

Im vorliegenden Fall lässt sich weder feststellen, dass die Abschiebung der Antragsteller in dem für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt ihres Vollzugs [...] mit hoher Wahrscheinlichkeit rechtswidrig gewesen ist, noch, dass die Abschiebung mit hoher Wahrscheinlichkeit die Antragsteller fortdauernd in einem Recht auf Verbleib im Bundesgebiet verletzt.

2. Der Antragsgegner rügt mit der Beschwerde zu Recht, dass die Annahme des Verwaltungsgerichts, die Abschiebung sei rechtswidrig, weil zu ihrem Zeitpunkt der Abschiebung offensichtlich ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK bestanden habe, nicht im Einklang mit der sich aus § 42 Satz 1 AsylG ergebenden Bindungswirkung steht. [...]

a) Die Antragsteller sind gemeinsam mit dem Ehemann der Antragstellerin zu 1 und Vater der Antragsteller zu 2 bis 4 sowie mit drei weiteren Kindern [...] 2021 nach Deutschland eingereist; die gesamte Familie hat am 03.01.2022 einen förmlichen Asylantrag gestellt. Aufgrund der Stellung des Asylantrags obliegt dem Bundesamt nach § 24 Abs. 2 AsylG die Entscheidung darüber, ob (zielstaatsbezogene) nationale Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG bestehen. Dabei bezieht sich die nach § 31 Abs. 3 Satz 1 AsylG zu treffende Feststellung, ob die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG vorliegen, in den Fällen unzulässiger Asylanträge nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 bis 4 AsylG nicht auf den Herkunftsstaat des Asylbewerbers, sondern auf den Zielstaat der Abschiebung bzw. Überstellung. [...]

b) Das Bundesamt hat mit Bescheid vom 17.03.2022 den Asylantrag der Familie als unzulässig abgelehnt (Ziffer 1), festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 2), den Antragstellern unter Setzung einer Frist für die freiwillige Ausreise die Abschiebung nach Malta oder in einen anderen aufnahmebereiten Staat mit Ausnahme Syriens angedroht (im Einzelnen Ziffer 3 des Bescheids) und ein auf 30 Monate befristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot angeordnet (Ziffer 4). Der auf § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gestützten Entscheidung liegt zugrunde, dass dem Ehemann der Antragstellerin zu 1 in Malta am 02.01.2016 subsidiärer Schutz zuerkannt und ihm eine bis zum 07.10.2024 gültige Aufenthaltserlaubnis ausgestellt worden ist. Auch die Antragstellerin zu 1 und die gemeinsamen Kinder verfügen aufgrund einer Entscheidung der zuständigen maltesischen Behörde vom 26.04.2018 über subsidiären Schutz sowie über bis zum 25.04.2024 gültige Aufenthaltserlaubnisse. Das Bundesamt hat Abschiebungsverbote mit Blick auf Malta im Wesentlichen mit der Erwägung verneint, dass die dortigen humanitären Bedingungen auch unter Berücksichtigung der individuellen Umstände der Familie nicht zu der Annahme führten, ihre Abschiebung nach Malta begründe eine Verletzung von Art. 3 EMRK (vgl. im Einzelnen Bescheid S. 7 ff.).

Nachdem bereits zuvor der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung in Ziffer 3 des Bescheids des Bundesamts vom 17.03.2022 erfolglos geblieben war (VG Sigmaringen, Beschluss vom 10.05.2022 - A 4 K 801/22 -), ist die Klage der schon damals anwaltlich vertretenen Antragsteller gegen den Bescheid des Bundesamts vom 17.03.2022 mit dem seit 28.06.2022 rechtskräftigen Gerichtsbescheid des Verwaltungsgerichts Sigmaringen vom 10.06.2022 - A 4 K 783/22 - abgewiesen worden. Dass die Antragsteller nur die Aufhebung des Bundesamtsbescheids und nicht - hilfsweise - einen entsprechenden Verpflichtungsantrag auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG gestellt haben (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 21.11.2017 - 1 C 39.16 -, juris Rn. 47), berührt die Bestandskraft der negativen Feststellung des Bundesamts zum Vorliegen dieser Abschiebungsverbote nicht.

c) Die an sich nur zwischen dem Bundesamt und den Antragstellern wirkende Feststellung zu Abschiebungsverboten wird durch § 42 Satz 1 AsylG auf die Ausländerbehörde erstreckt. § 42 Satz 1 AsylG, der bestimmt, dass die Ausländerbehörde an die Entscheidung des Bundesamts oder des Verwaltungsgerichts über das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG gebunden ist, stellt sicher, dass gesetzliche Abschiebungsverbote nach diesen Bestimmungen auch in den Fällen gegenüber der Ausländerbehörde Wirkung entfalten, in denen ihr eine eigene Prüfung dieser Verbote wegen der Kompetenzverlagerung auf das Bundesamt untersagt ist [...].

Die in § 42 Satz 1 AsylG angeordnete Bindungswirkung gilt nicht nur für positive, sondern auch für negative Entscheidungen des Bundesamts [...]

Die Bindungswirkung besteht - auch in ihrer negativen Wirkung - fort, solange die Entscheidung des Bundesamts nicht aufgehoben oder abgeändert wurde [...]. Die Ausländerbehörde ist nicht berechtigt, nach eigener Prüfung ein nationales Abschiebungsverbot festzustellen und dem Ausländer deshalb eine Duldung zu erteilen, wenn das Bundesamt oder das Verwaltungsgericht in einem Asylverfahren entschieden hat, dass keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG vorliegen. Selbst bei nachträglicher erheblicher Änderung der Sachlage ist ausschließlich das Bundesamt zur Korrektur seiner einmal getroffenen Feststellungen befugt, und zwar unabhängig von dem Zeitraum, der seit seiner Erstentscheidung verstrichen ist [...]. Beruft sich der Ausländer im Rahmen einer Abschiebung auf neu eingetretene Umstände, die aus seiner Sicht nunmehr Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG begründeten, so muss er einen Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens (Folgeschutzgesuch) beim Bundesamt stellen, der auch dazu führt, dass jedenfalls vorläufig die Abschiebung nicht vollzogen wird. Solange das Bundesamt diesem Antrag nicht entsprochen hat, steht für die Ausländerbehörde fest, dass kein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot besteht [...].

3. Unionsrecht - insbesondere in Gestalt von Art. 4, Art. 7 GrCh und Art 5 Richtlinie 2008/115/EG <Rückführungsrichtlinie> - und Verfassungsrecht (Art. 2 Abs. 2 Satz 1, Art. 6 GG) gebieten es nicht, § 42 Satz 1 AsylG restriktiv auszulegen. Entgegen der Auffassung der Antragsteller obliegt der für die Abschiebung zuständigen Ausländerbehörde keine Verpflichtung, sich zu vergewissern, dass der Sachverhalt, welcher der unanfechtbaren Feststellung des Bundesamts, hinsichtlich des Zielstaats der Abschiebung lägen keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG vor, unverändert ist. Solches ist nicht geboten, weil die Möglichkeit eines Folgeschutzgesuchs beim Bundesamt besteht, das in unmittelbarer Anwendung des § 51 VwVfG unter Einschluss des behördlichen Ermessens gemäß § 51 Abs. 5 VwVfG i.V.m. §§ 48, 49 VwVfG geprüft werden kann [...], und dies auch effektiv prozessual abgesichert werden kann. [...]

Die Antragsteller haben weder die Schwangerschaft der Antragstellerin zu 1 noch die Situation der Familie insgesamt oder eines Teils zum Gegenstand eines Folgeschutzgesuchs gegenüber dem Bundesamt gemacht, um eine erneute Prüfung eines nationalen Abschiebungsverbots zu erreichen. Ein solcher Antrag hätte - wie die Beschwerde zutreffend ausführt - dazu geführt, dass bis zu einer Entscheidung des Bundesamts aufenthaltsbeendende Maßnahmen ausgesetzt werden. Auf einen Wiederaufgreifensantrag, der nur auf nationale Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG gerichtet ist, wird nach der Rechtsprechung des erkennenden Gerichtshofs § 71 Abs. 5 Satz 2 AsylG entsprechend angewendet [...]

Darüber hinaus kommt auch beim Folgeschutzantrag ausnahmsweise in zeitlich zugespitzten Ausnahmefällen vorläufiger Rechtsschutz nach § 123 VwGO gegenüber dem Rechtsträger der Ausländerbehörde in Betracht, wenn effektiver Rechtsschutz gegenüber der Bundesrepublik Deutschland nicht mehr rechtzeitig erreicht werden kann (vgl. etwa OVG Niedersachsen, Beschluss vom 20.06.2017 - 13 PA 104/17 -, juris Rn. 17). Ein sicherungsfähiger Anordnungsanspruch ergibt sich insoweit mangels Zuständigkeit und Prüfungskompetenz der Ausländerbehörde nicht aus § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG i.V.m. § 60a Abs. 2 S. 1 AufenthG, sondern unmittelbar aus Art. 19 Abs. 4 GG [...]. Der Rechtsschutz gegenüber dem Rechtsträger der Ausländerbehörde ist in einem solchen Fall darauf gerichtet sicherzustellen, dass ein Folgeschutzgesuch beim Bundesamt gestellt bzw. die Entscheidung hierüber ggf. gerichtlicher Kontrolle zugeführt werden kann.

b) Nach Aktenlage ist zu keinem Zeitpunkt durch die anwaltlich vertretenen Antragsteller zum Ausdruck gebracht worden, dass sie eine neue Entscheidung des zuständigen Bundesamts über das Vorliegen von Abschiebungsverboten begehren würden. Dies gilt sowohl für die Zeit vor dem ersten - am 06.10.2022 abgebrochenen - Abschiebeversuch der Familie als auch danach. [...]

II. Hat der Antragsgegner dargelegt, dass die tragende Begründung des Verwaltungsgerichts - Abschiebung unter Verstoß gegen ein offensichtliches Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK - dessen Entscheidung nicht rechtfertigt, hat das Beschwerdegericht allerdings - entsprechend § 144 Abs. 4 VwGO - zu prüfen, ob das Ergebnis gleichwohl aus anderen Gründen richtig ist [...]. Dies ist nicht der Fall.

1. Der Antragsgegner ist nicht gehalten gewesen, die Abschiebung der Antragstellerin nach § 60a AufenthG i.V.m. Art. 9 Richtlinie 2008/115/EG auszusetzen.

Art. 5 Richtlinie 2008/115/EG, der eine für die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung dieser Richtlinie geltende allgemeine Regel darstellt, verpflichtet die zuständige nationale Behörde, in jedem Stadium des Rückkehrverfahrens - und damit auch bei einer Abschiebung - den Grundsatz der Nichtzurückweisung einzuhalten. Art. 9 Abs. 1 Richtlinie 2008/115/EG steht somit einer Abschiebung entgegen, wenn ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme vorliegen, dass der Ausländer bei der Rückkehr in ein Drittland dem tatsächlichen Risiko unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne von Art. 4 GrCh i.V.m. deren Art. 1 und Art. 19 Abs. 2 ausgesetzt ist (vgl. im Einzelnen EuGH, Urteil vom 22.11.2022 - C-69/21 -, <X>, juris Rn. 55 ff.).

Der Gesundheitszustand der Antragstellerin zu 1, ihre Schwangerschaft und auch der Umstand, dass sie nicht gemeinsam mit ihrem Ehemann, sondern nur mit einem Teil der minderjährigen Kinder nach Malta rückgeführt wird, haben weder für sich betrachtet noch in der Gesamtheit das Erfordernis begründet, die Abschiebung zu unterlassen.

Der mit Anwaltsschreiben vom 28.10.2022 vorgelegte Überweisungsschein eines Hausarztes vom ... 2022 an eine psychiatrische Ambulanz wegen "Verdacht auf Angsterkrankung/Depression/PTBS" hat keinen hinreichenden Anlass für die Ausländerbehörde geboten, von Amts wegen aufzuklären, ob die Abschiebung der Antragstellerin zu 1 aufgrund einer psychischen Erkrankung auszusetzen wäre. [...]

Eine Risikoschwangerschaft, die nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG zu einem Anspruch auf Duldung führt (Dollinger in: Bergmann/Dienelt, AuslR, 14. Aufl. 2022, § 60a Rn. 27), ist der Antragstellerin zu 1 ausweislich der in den Akten befindlichen ärztlichen Bescheinigung nicht attestiert worden. Der Termin der Abschiebung am 21.11.2022 ist noch außerhalb der gesetzlichen Mutterschutzfristen gewesen, innerhalb derer von einer Reiseunfähigkeit der Schwangeren auszugehen ist [...]. Zudem hat der Antragsgegner durch eine Arztbegleitung ab Abholung in der Wohnung sichergestellt, dass die Schwangere während des gesamten Vorgangs der Abschiebung ärztlich betreut ist, und hat damit durch eine entsprechende tatsächliche Gestaltung des Vollstreckungsverfahrens Vorkehrungen getroffen, um Gesundheitsgefahren abzuwehren [...].

Bedarf ein Ausländer medizinischer Versorgung, so ist nicht nur während des Abschiebungsvorgangs sicherzustellen, dass es nicht zu einer raschen, erheblichen und unumkehrbaren Verschlimmerung seines Gesundheitszustands kommt, sondern es kann nach den Umständen des Einzelfalls noch ein Zeitraum nach der Ankunft im Zielland der Abschiebung in den Blick zu nehmen sein. [...]

Es gibt keinen Anhalt dafür, dass es für die Antragstellerin zu 1 aufgrund ihrer Schwangerschaft oder ihrer sonstigen Verfassung einer unmittelbaren ärztlichen Versorgung nach Ankunft in Malta bedurft hätte, die von dem Antragsgegner sicherzustellen gewesen wäre. Allerdings schützt Art. 4 GrCh auch davor, dass eine Abschiebung in Lebensverhältnisse erfolgt, in denen der Betreffende der ernsten Gefahr ausgesetzt ist, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erfahren, weil er unabhängig von seinem Willen und seiner persönlichen Entscheidung in einer Situation extremer materieller Not leben muss, die es nicht erlaubt, die elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, insbesondere den existentiellen Lebensunterhalt zu sichern, ein Obdach zu haben und Zugang einer medizinischen Basisversorgung zu erhalten [...].

Dass die Antragsteller, denen in Malta subsidiärer Schutz zuerkannt worden ist, in einer derartigen Situation wären, hat das Bundesamt in seinem bestandskräftigen Bescheid geprüft und verneint. Ein weiterer Klärungsbedarf durch den für die Abschiebung zuständigen Antragsgegner besteht nach den obigen Ausführungen (I.) nicht.

2. Der Antragsgegner hat auch nicht durch die konkrete Gestaltung der Abschiebung ein in seine Verantwortungssphäre fallendes "real risk" einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Zielstaat geschaffen.

a) Das Regierungspräsidium hat mit Schreiben vom 15.11.2022 der maltesischen Botschaft in Deutschland, über die die Kommunikation mit den Behörden vor Ort in Malta erfolgt, mit einer "Notification of Repatriation" mitgeteilt, dass die Antragstellerin zu 1 mit ärztlicher Begleitung und die Antragsteller zu 2 bis 4 auf den am 21.11.2022 um ... vom Flughafen ... aus startenden Flug nach Malta gebucht sind sowie die übrigen Mitglieder der Familie am 21.11.2022 um ... von ... nach Malta fliegen werden. [...]

Dem Antragsgegner ist eine gemeinsame Rückführungsmaßnahme der aus acht Personen bestehenden Gesamtfamilie nicht möglich gewesen. Ausweislich der Akten hat die Buchung auf zwei getrennte Flüge im Abstand weniger Stunden ihren Grund darin, dass das deutsche Luftfahrtunternehmen die Anzahl der Passagiere, welche mit diesen Linienflügen abgeschoben werden, begrenzt. [...]

Eine Abschiebung einer Familie in der Weise, dass diese vom gleichen Abflughafen aus in zwei unterschiedlichen Flügen (jeweils ein Elternteil und die gleiche Anzahl minderjähriger Kinder) mit einer Trennung von wenigen Stunden an den identischen Zielflughafen verbracht wird, verletzt keine subjektiven Rechte. [...]

Am Tag der Abschiebung ist die komplette Familie in den frühen Morgenstunden angetroffen worden. Ausweislich eines polizeilichen Vermerks ist die Familie durch die abholende Polizei mit Hilfe eines Dolmetschers darüber informiert worden, dass zunächst die Ehefrau und ein Teil der Kinder abgeschoben, der Ehemann und die weiteren Kinder gegen 6 Uhr abgeholt und ebenfalls zum Flughafen gebracht würden. Der Ehemann sei angewiesen worden, bis zum Eintreffen der Beamten um 6 Uhr vor Ort zu warten. Zudem sei mitgeteilt worden, dass die Ehefrau mit den drei Kindern abgeschoben werde - egal, was passiere. Tatsächlich seien der Vater und die restlichen Kinder beim zweiten Zugriff nicht mehr vor Ort gewesen. [...]

b) Die Antragsteller sind der Auffassung, die Familie sei durch eine staatliche Maßnahme schwerwiegend zerrissen worden. Es könne nicht von einer vorübergehenden Trennung gesprochen werden, da der Ehemann mit den drei Kindern nunmehr nicht auffindbar sei und daher nicht abgeschoben werden könne. [...]

c) Bei der im Rahmen der Prüfung nationaler Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG zu leistenden Prognose, welche Gefahren einem Ausländer bei Rückkehr in den Herkunftsstaat drohen, ist eine - zwar notwendig hypothetische, aber doch - realitätsnahe Rückkehrsituation zugrunde zu legen; lebt der Ausländer auch in Deutschland in familiärer Gemeinschaft mit der Kernfamilie, ist für die Bildung der Prognose der hypothetische Aufenthalt des Ausländers im Herkunftsland in Gemeinschaft mit den weiteren Mitgliedern dieser Kernfamilie zu unterstellen [...]. Auch in sog. Drittstaatenfällen kommt es darauf an, ob die Familie unabhängig vom eigenen Willen und persönlichen Entscheidungen in eine Situation gerät, die unter Art. 4 GrCh bzw. Art. 3 EMRK fällt [...]. Eine familiäre Lebensgemeinschaft ist eine Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft, bei der ein gegenseitiges Einstehen in den Not- und Wechselfällen des Lebens erwartet werden kann [...].

Für den Antragsgegner hat nach den ihm zur Verfügung stehenden Erkenntnissen kein Anhalt dafür bestanden, dass die Beziehung zwischen der Antragstellerin zu 1 und ihrem Ehemann gestört wäre oder gar eine Aufhebung der ehelichen Lebensgemeinschaft im Raum stünde. Solches ist auch nach wie vor nicht ersichtlich, denn auch der Ehemann strebt die Rückholung der Antragsteller an, damit hier im Bundesgebiet weitere Anträge für die Familie insgesamt gestellt werden können. Dass sich der Ehemann - mit weiteren minderjährigen Kindern - im Wissen, dass die Antragsteller auch ohne ihn abgeschoben werden, der Abschiebung entzieht und damit seiner Verantwortung im Rahmen des familiären Solidar-, Betreuungs- und Unterstützungsverbands gegenüber den Antragstellern nicht entspricht, ist eine freiwillige, persönliche Entscheidung, die sich die Familie insgesamt zurechnen lassen muss und die einer Berufung auf Art. 4 GrCh bzw. Art. 3 EMRK entgegensteht. Das vorliegend ausnahmsweise etwas anderes gelten könnte, ist nicht ersichtlich. [...]

3. Abgesehen davon, dass die Abschiebung der Antragsteller nicht rechtswidrig gewesen ist, ist hierdurch auch kein Recht auf Verbleib im Bundesgebiet verletzt worden. Die Antragsteller sind vollziehbar ausreisepflichtig gewesen und wären es bei einer Rückkehr nach Deutschland erneut. [...]