VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 07.12.2022 - 11 S 148/22 - asyl.net: M31236
https://www.asyl.net/rsdb/m31236
Leitsatz:

Verpflichtungserklärung muss der Behörde eigenhändig unterschrieben zugehen:

"1. Die Einhaltung der in § 68 Abs. 2 Satz 1 AufenthG vorgeschriebenen Schriftform ist unter Zugrundelegung des § 126 Abs. 1 BGB zu beurteilen und erfordert danach die eigenhändige Namensunterschrift oder ein notariell beglaubigtes Handzeichen oder eine andere durch § 126 BGB zugelassene Form.

2. Soweit empfangsbedürftige Willenserklärungen einem Formerfordernis unterliegen, müssen diese Erklärungen nicht nur formgerecht erstellt werden, sondern auch in der vorgeschriebenen Form dem Empfänger zugehen.

3. Die Vorlage eines nicht eigenhändig unterschriebenen Ausdrucks vermag das Schriftformerfordernis des § 68 Abs. 2 Satz 1 AufenthG i. V. mit § 126 Abs. 1 BGB nicht zu wahren.

4. Der Grundsatz von Treu und Glauben i. S. des § 242 BGB ist auch im öffentlichen Recht anwendbar [...].

5. Grundsätzlich darf jeder Beteiligte eines Rechtsgeschäfts geltend machen, die für das Rechtsgeschäft vorgeschriebene Schriftform sei nicht eingehalten [...].

6. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz setzt voraus, dass über den Vertrauensschutz hinaus schwerwiegende Gründe für eine unzulässige Rechtsausübung bestehen und die Berufung auf die Formungültigkeit ein untragbares Ergebnis zur Folge hätte."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Verpflichtungserklärung, Schriftform, Unterschrift, Wirksamkeit, Visum, Visum zur medizinischen Behandlung,
Normen: AufenthG § 68 Abs. 2 S. 1, AufenthG § 68 Abs. 1, BGB § 126 Abs. 1, BGB § 242
Auszüge:

[...]

Nach § 68 Abs. 1 Satz 1 AufenthG hat, wer sich der Ausländerbehörde oder einer Auslandsvertretung gegenüber verpflichtet hat, die Kosten für den Lebensunterhalt eines Ausländers zu tragen, für einen Zeitraum von fünf Jahren sämtliche öffentlichen Mittel zu erstatten, die für den Lebensunterhalt des Ausländers einschließlich der Versorgung mit Wohnraum sowie der Versorgung im Krankheitsfalle und bei Pflegebedürftigkeit aufgewendet werden, auch soweit die Aufwendungen auf einem gesetzlichen Anspruch des Ausländers beruhen. Dabei bedarf das Entstehen einer solchen Verpflichtung, deren (auch zeitlicher) Umfang in § 68 Abs. 1 Sätze 2 bis 4 AufenthG genauer geregelt wird, gemäß § 68 Abs. 2 Satz 1 AufenthG der Schriftform. [...]

1. Die Einhaltung der in § 68 Abs. 2 Satz 1 AufenthG vorgeschriebenen Schriftform ist unter Zugrundelegung des § 126 Abs. 1 BGB zu beurteilen und erfordert danach die eigenhändige Namensunterschrift oder ein notariell beglaubigtes Handzeichen, wobei beides nach § 126 Abs. 4 BGB durch die notarielle Beurkundung nach § 128 BGB - und möglicherweise nach § 126 Abs. 3 BGB auch durch die elektronische Form i. S. des § 126a BGB (elektronische Signatur) - ersetzt werden kann.

Zwar ist § 126 Abs. 1 BGB nur auf Schriftformerfordernisse des Privatrechts und nicht auch auf - wie hier - entsprechende öffentlich-rechtliche Erfordernisse unmittelbar anzuwenden [...].

Allerdings findet § 126 Abs. 1 BGB auf das in § 68 Abs. 2 Satz 1 AufenthG vorgesehene Schriftformerfordernis für Verpflichtungserklärungen i. S. des § 68 Abs. 1 Satz 1 AufenthG gleichwohl Anwendung [...]:

So gebieten nämlich Sinn und Zweck auch eines in einer verwaltungsrechtlichen Regelung enthaltenen Schriftformerfordernisses die Anwendung des § 126 Abs. 1 BGB für Erklärungen, die auf die Begründung, Änderung oder Beendigung eines privatrechtlichen Rechtsverhältnisses gerichtet sind, und für geschäftsähnliche Handlungen, die eine solche Rechtsfolge auslösen [...].

Im Ergebnis ebenso verhält es sich in Bezug auf die hier streitige Verpflichtungserklärung. Denn diese ist auf die Begründung eines Rechtsverhältnisses gerichtet, das zwar öffentlich-rechtlicher Natur, aber in der Sache einem zivilrechtlichen Schuldversprechen i. S. von § 780 BGB vergleichbar ist [...].

2. Die nach § 68 Abs. 2 Satz 1 AufenthG i. V. mit § 126 Abs. 1 BGB erforderliche Schriftform ist in Bezug auf die hier maßgebliche Verpflichtungserklärung vom 09.05.2019 nicht erfüllt. Denn der abgegebenen Erklärung, die weder durch notariell beglaubigtes Handzeichen unterzeichnet (§ 126 Abs. 1 2. Alt. BGB) noch elektronisch signiert (§ 126 Abs. 3 i. V. mit § 126a BGB) oder notariell beurkundet (§ 126 Abs. 4 i. V. mit § 128 BGB) worden ist, fehlt es auch an einer eigenhändigen Namensunterschrift i. S. des § 126 Abs. 1 1. Alt. BGB.

So spricht bereits vieles dafür, dass die in Rede stehende Verpflichtungserklärung mit dem Faksimile einer Unterschrift der Geschäftsführerin der Klägerin samt Firmenstempel derselben versehen wurde. [...]

Denn die Eigenhändigkeit schließt jede Form der mechanischen Vervielfältigung der Unterschrift durch Stempelaufdruck, Faksimile, die Unterschrift mittels Schreibmaschine, aber auch per Fernschreiber, Telefax oder durch datenmäßige Vervielfältigung durch Computereinblendung aus [...].

Hierauf kommt es aber im Ergebnis nicht an. Denn soweit empfangsbedürftige Willenserklärungen einem Formerfordernis unterliegen, müssen diese Erklärungen nicht nur formgerecht erstellt werden, sondern auch in der vorgeschriebenen Form dem Empfänger zugehen [...]. Daher ist die Verpflichtungserklärung als einseitige empfangsbedürftige Willenserklärung [...] selbst dann, wenn sie im Original mit einer eigenhändigen Unterschrift der Geschäftsführerin der Klägerin versehen worden sein sollte, nicht i. S. des § 68 Abs. 2 Satz 1 AufenthG i. V. mit § 126 Abs. 1 BGB schriftlich gegenüber einem der nach § 68 Abs. 1 Satz 1 AufenthG in Frage kommenden Erklärungsempfänger abgegeben worden. Denn die Verpflichtungserklärung lag weder einer Ausländerbehörde noch einer Auslandsvertretung im Original vor. [...]

3. Dieser in entsprechender Anwendung des § 125 BGB zur Nichtigkeit der Verpflichtungserklärung führende Mangel der Schriftform ist schließlich auch nicht unbeachtlich. Insbesondere ist die Klägerin nicht mit Blick auf den auch im öffentlichen Recht anwendbaren Grundsatz von Treu und Glauben i. S. des § 242 BGB [...] gehindert, sich zu ihrem Vorteil auf die Unwirksamkeit der Verpflichtungserklärung zu berufen.

Grundsätzlich darf jeder Beteiligte eines Rechtsgeschäfts geltend machen, die für ein Rechtsgeschäft vorgeschriebene Schriftform sei nicht eingehalten [...]. Formvorschriften dürfen im Interesse der Rechtssicherheit nicht aus bloßen Billigkeitserwägungen außer Acht gelassen werden. Ausnahmen sind deshalb nur zulässig, wenn es nach den Beziehungen der Parteien und den gesamten Umständen mit Treu und Glauben unvereinbar wäre, das Rechtsgeschäft am Formmangel scheitern zu lassen. Dabei sind aber strenge Maßstäbe anzulegen. Das Ergebnis darf die betroffene Partei nicht bloß hart treffen, sondern es muss schlechthin untragbar sein [...].

Ein solcher Ausnahmefall liegt hier nicht vor. Dabei kommt es nicht darauf an, ob zu Gunsten des Beklagten überhaupt Vertrauensschutz in Betracht zu ziehen ist [...]. Jedenfalls sind nämlich die weiteren Voraussetzungen einer Ausnahme nicht erfüllt.

a) Dies gilt zunächst mit Blick auf die von der Rechtsprechung bislang zuvörderst als Ausnahmen anerkannten Fallgruppen [...]. Denn eine Existenzgefährdung der den Lebensunterhalt der Eheleute S. H. und A. A. sichernden öffentlichen Hand, hier des beklagten Landes Baden-Württemberg, infolge der Ungültigkeit der Verpflichtungserklärung ist auszuschließen, und eine besonders schwere Treuepflichtverletzung der Klägerin liegt im Ergebnis ebenfalls nicht vor. [...]

bb) Ein in besonders hohem Maße widersprüchliches Verhalten der Klägerin liegt ebenfalls nicht vor.

(1) Mit Blick auf die Fallgestaltung einer nicht oder allenfalls in begrenztem Umfang möglichen Rückabwicklung des in Anspruch genommenen Vorteils er-scheint es - wie oben dargelegt - bereits fraglich, ob die Klägerin mit der allein in Betracht kommenden Erteilung von Visa an ihre Kunden überhaupt Vorteile aus der streitigen Verpflichtungserklärung in Anspruch genommen hat. [...]

(2) Die Klägerin hat die Mitarbeiter des Generalkonsulats in Erbil auch nicht schuldhaft von der Einhaltung der Schriftform abgehalten. [...]

cc) Eine die Geltendmachung der Formunwirksamkeit der Verpflichtungserklärung hindernde besonders schwere Treuepflichtverletzung liegt auch nicht deshalb vor, weil die Klägerin den Verlust des Kontakts zu den Eheleuten S. H. und A. A. und die Beendigung des Vertragsverhältnisses mit denselben dem Generalkonsulat in Erbil nicht unverzüglich mitgeteilt hat. Denn soweit darin eine Treuepflichtverletzung zu sehen sein sollte, wäre diese allenfalls als mittelschwer anzusehen. [...]

b) Die Geltendmachung der Formunwirksamkeit der Verpflichtungserklärung verstößt auch nicht aus sonstigen Gründen gegen den Grundsatz von Treu und Glauben. [...]

bb) Schließlich vermag auch der Umstand, dass die Formunwirksamkeit der Verpflichtungserklärung wegen § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG regelmäßig die Rechtswidrigkeit der erteilten Visa zur Folge hat, einen Verstoß gegen Treu und Glauben nicht zu rechtfertigen. [...]