VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 17.08.2022 - 31 K 305/20 A (Asylmagazin 3/2023, S. 70 ff.) - asyl.net: M31230
https://www.asyl.net/rsdb/m31230
Leitsatz:

Frauen als soziale Gruppe gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG:

1. Bei geschlechtsspezifischen Verfolgungshandlungen wird indiziert, dass die betroffene Zielgruppe (hier: Frauen) eine soziale Gruppe gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG darstellen. In einem zweiten Schritt ist anhand von Erkenntnismitteln zu prüfen, ob sich diese Indikation bestätigt, d.h. ob anhand der Erkenntnismittel von einer Gruppenidentität auszugehen ist.

2. Gerade auch Frauen als solche, also die Gesamtheit der weiblichen Bevölkerung im jeweiligen Staat, können eine soziale Gruppe gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG sein. Dem steht weder die Größe der Gruppe, noch die Möglichkeit, Untergruppen zu bilden, entgegen.

3. Der Verfolgungsgrund (soziale Gruppe der Frauen) wird hier aufgrund den von der Klägerin erlittenen Verfolgungshandlungen (Vergewaltigung und Zwangsprostitution) indiziert, da sich diese typischerweise gegen Frauen richten. Das gilt nach den verfügbaren Erkenntnismitteln gerade auch in Guinea, wo Frauen strukturell als minderwertig gelten und vielfältig diskriminiert werden.

(Leitsätze der Redaktion; entgegen: OVG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 06.05.2021 - 4 LB 755/20 OVG - asyl.net: M29720)

Schlagwörter: geschlechtsspezifische Verfolgung, Frauen, soziale Gruppe, Guinea, Zwangsprostitution, sexuelle Gewalt, sexualisierte Gewalt, Istanbul-Konvention, Verfolgungsgrund,
Normen: AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4, AsylG § 3a Abs. 1 Nr. 6, AsylG § 3a Abs. 3, RL 2011/95/EU Art. 10 Abs. 1 Bst. d,
Auszüge:

[...]

30 b. Ein Verfolgungsgrund ist ebenfalls gegeben. Die Klägerin gehört in Guinea einer bestimmten sozialen Gruppe im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG an, nämlich der sozialen Gruppe der Frauen.

31 aa. Nach § 3b Abs. 1 Nr. 4, erster Hs. AsylG gilt eine Gruppe insbesondere dann als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn a) die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und b) die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. § 3b Abs. 1 Nr. 4, letzter Hs. AsylG stellt in diesem Zusammenhang klar, dass eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe auch vorliegen kann, wenn sie allein an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpft. [...]

32 Nicht hinlänglich geklärt erscheint dem Gericht demgegenüber die genaue Bedeutung, die der Regelung in § 3b Abs. 1 Nr. 4, letzter Hs. AsylG in diesem Zusammenhang zukommt. [...]

33 bb. Das Gericht legt seiner Entscheidung Folgendes zugrunde:

34 Einerseits darf die Regelung in § 3b Abs. 1 Nr. 4, letzter Hs. AsylG in ihrer Bedeutung und Tragweite - nicht zuletzt aus rechtssystematischen Erwägungen - nicht überstrapaziert werden. So kann die Vorschrift jedenfalls keinen "Automatismus" dergestalt bewirken, dass insbesondere bei an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfenden Verfolgungshandlungen im Sinne des § 3a Abs. 2 Nr. 6 AsylG stets und ohne weitere Prüfung auch vom Vorliegen einer sozialen Gruppe auszugehen ist; ebenso wenig entbindet § 3b Abs. 1 Nr. 4, letzter Hs. AsylG in Fällen des § 3a Abs. 2 Nr. 6 AsylG von der nach § 3a Abs. 3 AsylG zudem erforderlichen Prüfung einer Verknüpfung zwischen Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund (vgl. unten I. 2.1 c.) [...]. Dem steht bereits entgegen, dass § 3a Abs. 2 Nr. 6 AsylG nach zutreffendem Verständnis allein die - durch einen Eingriff an einem geschlechtsspezifischen Ansatzpunkt charakterisierte - Verfolgungshandlung betrifft und nicht den Verfolgungsgrund [...]. Auch im Übrigen gilt, dass Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund nicht in unzulässiger Weise vermischt werden dürfen, sondern prinzipiell voneinander zu unterscheiden sind [...]. Die Verfolgungshandlung muss regelmäßig an das bereits zuvor bestehende Verfolgungsmerkmal anknüpfen und kann mithin - wie auch die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts bestätigt (vgl. oben I. 2.1 b. aa.) - selbst dann eine bestimmte soziale Gruppe im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG nicht erst definieren bzw. konstituieren, wenn eine Mehr- oder Vielzahl von Personen in vergleichbarer Weise betroffen wird [...].

35 Andererseits darf § 3b Abs. 1 Nr. 4, letzter Hs. AsylG indes auch nicht durch eine allzu restriktive Handhabung marginalisiert und seiner vom Gesetzgeber intendierten Wirkung beraubt werden. Im Gegenteil, muss die Norm bei geschlechtsbezogenen Handlungen, insbesondere zum wirksamen Schutz der Rechte von Frauen, effektiv zur Geltung gebracht werden. In der Konsequenz dürfen zur Überzeugung des Gerichts namentlich an die Prüfung des in Buchstabe b von § 3 Abs. 1 Nr. 4 AsylG verankerten sog. externen Elements ("social perception-Ansatz"; vgl. Hruschka, in: Huber/Mantel, a.a.O., § 3b AsylG Rn. 24) in Fällen geschlechtsspezifischer Verfolgungsmaßnahmen keine übersteigerten Anforderungen gestellt werden. Dafür dürften auch völkerrechtliche Erwägungen sprechen (vgl. die Nachweise oben I. 2.1 b. aa.), wobei in diesem Zusammenhang besonders auch auf das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt vom 11. Mai 2011 (BGBl. 2017 II S. 1026; sog. Istanbul-Konvention) hinzuweisen ist, das unter anderen Regelungen zu sexueller Gewalt einschließlich Vergewaltigung trifft (Art. 36), und in dessen Art. 60 Abs. 1 es hierzu - wenn auch seinerseits nicht gänzlich frei von Ambiguität - weiter heißt (vgl. auch Giesler/Hoffmeister, a.a.O., S. 408; Keßler, in: Hofmann, a.a.O., § 3a AsylG Rn. 1):

36 "Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass Gewalt gegen Frauen aufgrund des Geschlechts als eine Form der Verfolgung im Sinne des Artikels 1 Abschnitt A Ziffer 2 des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge von 1951 und als eine Form schweren Schadens anerkannt wird, die einen ergänzenden/subsidiären Schutz begründet."

37 Zu Recht wird in der Literatur ferner darauf hingewiesen, dass es in der Bestimmung des Begriffs der "sozialen Gruppe" in § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG - in Übereinstimmung mit Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2011/95/EU - heißt "insbesondere" (vgl. Hruschka, in: Huber/Mantel, a.a.O.); die Begriffsbestimmung muss also nicht zwingend als ab- und ausschließend aufgefasst werden. Zudem wird die Entwicklungsoffenheit des Konzepts betont [...].

38 Im Ergebnis dieser Überlegungen nimmt das Gericht an, dass bei geschlechtsspezifischen Verfolgungsmaßnahmen schon im Tatbestand der Verfolgungshandlung die Zielgruppe als soziale Gruppe im Sinne von § 3b AsylG indiziert wird [....]

42 Anders gewendet, wird die Prüfung der tatsächlichen Voraussetzungen des Flüchtlingsschutzes in Fällen wie dem vorliegenden nach der hier vertreten Ansicht in Bezug auf den Verfolgungsgrund durch § 3b Abs. 1 Nr. 4, letzter Hs. AsylG bis zu einem gewissen Grad normativ vorgeprägt. Klarstellend weist das Gericht jedoch nochmals ausdrücklich darauf hin, dass die Existenz einer bestimmten sozialen Gruppe mit diesem Verständnis von § 3b Abs. 1 Nr. 4, letzter Hs. AsylG nicht etwa unwiderleglich vermutet oder fingiert wird. Vielmehr geht das Gericht von einer zweistufigen Prüfung aus: Wenn der Verfolgungsgrund in einem ersten Prüfungsschritt als indiziert angesehen werden kann, so ist nach den vorhandenen Erkennt - nissen für den jeweiligen Herkunftsstaat in einem zweiten Schritt zu prüfen, ob sich die Indikation nach den dortigen Verhältnissen bekräftigen lässt (oder sie gegebenenfalls als entkräftet betrachtet werden muss).

43 Wenn nach dieser Lesart von § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG im Übrigen gerade auch Frauen als solche, also die Gesamtheit der weiblichen Bevölkerung im jeweiligen Staat, als eine bestimmte soziale Gruppe im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG in Betracht kommen, so lässt sich dem nach der Auffassung des Gerichts nicht entgegenhalten, dass diese Gruppe regelmäßig "schon wegen ihrer Größe keine deutlich abgegrenzte Identität" habe, "wegen der sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird" [...]. Vielmehr entspricht es gerade der spezifischen, die prekäre Situation insbesondere von Frauen in vielen Ländern in den Blick nehmenden, schutzorientierten Ausrichtung des § 3b Abs. 1 Nr. 4, letzter Hs. AsylG, dass - zumindest auch - Frauen als solche die internen und externen Merkmale für die Bejahung einer bestimmten sozialen Gruppe erfüllen können, also gerade nicht in jedem Fall eine Bildung von Untergruppen erforderlich ist [...]. Nicht zuletzt legt auch schon der Wortlaut von § 3b Abs. 1 Nr. 4, letzter Hs. AsylG ("allein an das Geschlecht") es nahe, dass eine bestimmte soziale Gruppe auch die Gruppe der Frauen als solche im jeweiligen Herkunftsland sein kann (wenn auch nicht in jedem Fall sein muss). Weil das Konzept der bestimmten sozialen Gruppe von dem der Gruppenverfolgung zu unterscheiden ist, müssen im Übrigen auch nicht notwendigerweise alle Gruppenmitglieder einem nach §§ 3 ff. AsylG beachtlichen Verfolgungsrisiko ausgesetzt sein [...].

44 cc. Bei Zugrundelegung dessen ist der Verfolgungsgrund der bestimmten sozialen Gruppe der Frauen in Guinea hier gegeben. Insbesondere kann auch die erforderliche Gruppenidentität (§ 3b Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b AsylG) nach dem zuvor Gesagten bejaht werden [...]. Der Verfolgungsgrund wird durch die von der Klägerin erlittenen Verfolgungshandlungen indiziert. Vergewaltigung, Menschenhandel und Zwangsprostitution richten sich, wenn auch nicht ausschließlich, so doch typischerweise gegen Frauen (vgl. z.B. auch Treiber, in: Fritz/Vormeier, a.a.O., § 3a AsylG Rn. 226a). Das gilt nach den verfügbaren Erkenntnissen gerade auch für Guinea, wo sich vor allem sexuelle Gewalt gegen Frauen einschließlich Vergewaltigung - wie gesehen - als ein besonders drängendes Problem darstellt, aber auch Frauenhandel mit dem Ziel der sexuellen Ausbeutung bzw. Zwangsprostitution immer wieder vorkommt (vgl. oben I. 2.1 a.).

45 Darüber hinaus finden sich in den Quellen hinlänglich Anhaltspunkte, die die Indikation der Gruppenidentität positiv stützen. So ist die Verfolgung der Klägerin nach Ansicht des Gerichts letztlich zumindest mitursächlich darauf zurückzuführen, dass Frauen in der traditionell-patriarchalischen Gesellschaftsordnung Guineas als minderwertig gelten und vielfältig diskriminiert werden. Mit dieser Stellung und dem Urteil der Minderwertigkeit ist zwangsläufig eine abgegrenzte Identität und eine gesellschaftliche Wahrnehmung als andersartig verbunden [...]. Es ist nach Ansicht des Gerichts also kein "Zufall", sondern durch strukturelle Gründe der guineischen Gesellschaftsordnung und Wertvorstellungen bedingt, dass sexuelle Gewalt gegen Frauen im Herkunftsland der Klägerin ein so eklatantes Ausmaß erlangt haben. [...]

47 c. Weiterhin sind die Verfolgungshandlungen und der Verfolgungsgrund im Fall der Klägerin auch hinreichend im Sinne des § 3a Abs. 3 AsylG miteinander verknüpft. Die Verfolgungshandlungen sind nach ihrem allein maßgeblichen inhaltlichen Charakter, unabhängig von den (möglichen) subjektiven Gründen oder Motiven, die die Verfolgenden dabei geleitet haben mögen, erkennbar auf die Klägerin gerade in ihrer Eigenschaft als Frau gerichtet gewesen. Vergewaltigung, Frauenhandel und sexuelle Ausbeutung bzw. Zwangsprostitution sind typische Ausdrücke - durch patriarchalische Gesellschaftsstrukturen geförderter - männlicher Dominanz- und Herrschaftsansprüche, mögen solche Maßnahmen im Einzelfall auch vollständig nur durch die individuellen psychischen Verfasstheiten der Verfolgenden zu erklären sein (die ihrerseits wiederum aber ebenfalls durch die Gesellschaftsstrukturen unterstützt und mitgeprägt werden; dies prinzipiell anerkennend z.B. auch VG München, Urteil vom 3. Februar 2021, a.a.O., juris Rn. 38); als solche - d.h. als Ausdrücke männlicher Dominanz- und Herrschaftsansprüche - werden sie von den Opfern regelmäßig auch empfunden. Derartige Maßnahmen treffen Frauen gerade in ihrer unmittelbaren Sexualität und stellen ihre sexuelle Integrität und Selbstbestimmung, als wesentliche Teilaspekte ihrer Personalität und Würde namentlich auch als Frauen, objektiv in Abrede. [...]