Aufhebung einer Unzulässigkeitsentscheidung hinsichtlich Griechenland wegen drohender Verletzung von Art. 4 GR-Charta:
1. Personen mit internationalem Schutz in Griechenland droht bei Rückkehr eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung.
2. Es bedarf einer expliziten Zusage des griechischen Staates zur Betreuung im jeweiligen Einzelfall, um Obdachlosigkeit zu vermeiden. Zudem steht zu befürchten, dass international Schutzberechtigte bei Rückkehr nach Griechenland nicht über die finanziellen Mittel verfügen, um ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen.
(Leitsätze der Redaktion; bezugnehmend auf: OVG Sachsen, Urteil vom 27.04.2022 - 5 A 492/21.A - asyl.net: M30716)
[...]
Der EuGH hat in seiner Rechtsprechung Art. 33 Abs. 2 lit. a) RL 2013/32/EU im Wege der Auslegung um ein weiteres, negatives Tatbestandsmerkmal ergänzt. Wäre der Antragsteller als Person, die internationalen Schutz genießt, in dem Mitgliedstaat, der ihm diesen Schutz gewährt hat, der ernsthaften Gefahr ausgesetzt, aufgrund der Lebensumstände, die ihn dort erwarten würden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh zu erfahren, kann sich der Mitgliedstaat, in dem der neue Antrag auf internationalen Schutz gestellt worden ist, nicht auf Art. 33 Abs. 2 lit. a) RL 2013/32/EU berufen, um diesen als unzulässig abzulehnen (vgl. EuGH, Beschl. v. 13. November 2019 - C-540/17 u.a. - [Hamed und Omar] -, juris Rn. 35 ff. unter Bezugnahme auf EuGH, 19. März 2019 - C-297/17 - [Ibrahim u.a.] -, juris; daran anschließend BVerwG, Urt. v. 20. Mai 2020 - 1 C 34.19 -, juris Rn. 15 ff.). [...]
Nach Art. 4 GRCh darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Die Vorschrift entspricht dem gleichlautenden Art. 3 EMRK (vgl. EuGH, Urt. v. 19. März 2019- C-297/17 [Ibrahim] juris Rn. 89). An das Vorliegen einer solchen Gefahr ist aber wegen des unionsrechtlichen Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens (Art. 4 Abs. 3 EUV) eine besonders hohe Erheblichkeitsschwelle anzulegen (Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, Art. 4 GRCh Rn. 3). [...] Für diese Gefahreneinschätzung ist grundsätzlich zu berücksichtigen, ob der vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer nach seiner Rückkehr, gegebenenfalls durch ihm gewährte Rückkehrhilfen, in der Lage ist, seine elementarsten Bedürfnisse über einen absehbaren Zeitraum zu befriedigen. Nicht entscheidend ist hingegen, ob das Existenzminimum eines Ausländers nachhaltig oder gar auf Dauer sichergestellt ist. Die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung muss in dem Sinne konkret sein, dass die drohende menschenrechtswidrige Beeinträchtigung in einem derart engen zeitlichen Zusammenhang zu der Rückkehr eintritt, dass bei wertender Betrachtung noch eine Zurechnung zu dieser gerechtfertigt ist (vgl. SächsOVG, Urt. v. 27. April 2022 - 5 A 492/21.A juris Rn. 40).
bb) Das Sächsische Oberverwaltungsgericht hat in seinem Urteil vom 27. April 2022 (5 A 492/21.A juris) unter ausführlicher Darlegung und Auswertung sämtlicher aktuell vorliegender Erkenntnismittel überzeugend dargelegt, dass für in Griechenland anerkannte Schutzberechtigte vorbehaltlich besonderer Umstände des Einzelfalls die ernsthafte Gefahr besteht, dass sie im Falle ihrer Rückkehr nach Griechenland ihre elementarsten Bedürfnisse über einen absehbaren Zeitraum nicht befriedigen können und sie damit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 4 GRCh und Art. 3 EMRK erfahren [...].
(1) Es ist insbesondere davon auszugehen, dass in Griechenland für international Schutzberechtigte von staatlicher Seite kein Wohnraum bereitgestellt wird, keine staatliche Unterstützung beim Zugang zu Wohnraum existiert und auch nicht die Möglichkeit besteht, in einer Flüchtlingsunterkunft unterzukommen, es sei denn, die griechischen Behörden haben eine explizite Zusage zur Betreuung im jeweiligen Einzelfall gegeben (vgl. SächsOVG, Urt. v. 27. April 2022 - 5 A 492/21.A juris Rn. 46 ff.). Im Fall der Klägerin wurde aber keine solche Zusage erteilt. Insbesondere ist das Schreiben des griechischen Ministeriums für Migrationspolitik vom 8. Januar 2018 nicht im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfG, Beschl. v. 8. Mai 2017 - 2 ByR 157/17 -, juris Rn. 22) als Zusicherung einer zumindest zeitweisen Unterbringung der Zurückzuführenden zu werten. Es stellt keine konkret-individuelle Einzelregelung bezogen auf die Klägerin dar, sondern informiert lediglich darüber, dass die RL 2011/95/EU rechtzeitig im Jahr 2013 umgesetzt worden sei und international Schutzberechtigten alle Rechte gewährt würden, die darin festgelegt seien (vgl. ausdrücklich SächsOVG, Urt. v. 27. April 2022 - 5 A 492/21.A juris Rn. 49).
Für zurückkehrende anerkannte Schutzberechtigte ist die Anmietung von Wohnraum auf dem freien Wohnungsmarkt faktisch aussichtslos (vgl. SächsOVG, Urt. v. 27. April 2022 - 5 A 492/21.A juris Rn. 62 ff. m.N.). Anerkannte Asylbewerber müssen für ihren Lebensunterhalt einschließlich der Unterbringung selbst aufkommen und sich grundsätzlich Wohnungen auf dem freien Wohnungsmarkt beschaffen. Die meisten Schutzberechtigten können aufgrund des Mangels an erschwinglichen Immobilien und der hohen Nachfrage keine Mietwohnungen finden. Auch Begünstige, die über ausreichende finanzielle Mittel zum Anmieten einer Wohnung verfügten, gaben an, dass sie mangels Integration in den Arbeitsmarkt die Miete nicht länger als einige Monate bezahlen können; neben der Miete müssen die Betroffenen auch die Nebenkosten und andere Ausgaben decken. Aussichten, die zum 1. Januar 2019 eingeführten wohnungsbezogenen gesetzlichen Sozialleistung zu beziehen, die ein Wohngeld von 70 Euro für eine Einzelperson vorsehen, bestehen für anerkannte Asylbewerber regelmäßig nicht, da Voraussetzung hierfür ein fünfjähriger dauerhafter und legaler Voraufenthalt in Griechenland ist (vgl. SächsOVG, Urt. v. 27. April 2022 - 5 A 492/21.A juris Rn. 62 ff. m.N.). Auch Nichtregierungsorganisationen können in aller Regel nicht die hierdurch entstehenden Schutzlücken auffangen, da die Zahl der Unterkünfte insgesamt nicht ausreichend ist und Nichtregierungsorganisationen keine flächen- und bedarfsdeckende Unterstützung im Hinblick auf Unterkünfte leisten können; zudem erscheint es für Rückkehrende aussichtslos, einen Platz in einer Obdachlosenunterkunft zur kurzfristigen Unterbringung zu erhalten. Ausreichend zumutbare informelle Wohnmöglichkeiten stehen nicht zur Verfügung (vgl. SächsOVG, Urt. v. 27. April 2022 - 5 A 492/21.A juris Rn. 69 ff. m.N.). [...]