EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 12.01.2023 - C-323/21; C 324/21; C-325/21 B., F. und K. gg. Niederlande (Asylmagazin 6/2023, S. 231 ff.) - asyl.net: M31222
https://www.asyl.net/rsdb/m31222
Leitsatz:

Zuständigkeitsübergang in Dublin-Verfahren bei erneuter Weiterreise und Ablauf der Überstellungsfrist:

1. Nimmt der nach den Kriterien der Dublin-III-Verordnung [VO 604/2013] zuständige Mitgliedstaat [im Folgenden: MS 1] ein Wiederaufnahmeersuchen des ersuchenden Mitgliedstaats [im Folgenden: MS 2] an und reist eine schutzsuchende Person im Anschluss weiter in einen dritten Mitgliedstaat [im Folgenden: MS 3] und stellt dort einen weiteren Antrag auf internationalen Schutz, woraufhin auch MS 3 ein Wiederaufnahmeersuchen an MS 1 richtet, das MS 1 annimmt, und läuft dann die für den MS 2 maßgebliche Überstellungsfrist gemäß Art. 29 Abs. 2 Dublin-III-VO ab, ist MS 2 trotz Weiterreise, Antragstellung in MS 3 und angenommenem Wiederaufnahmeersuchens des MS 3 durch MS 1 für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig.

2. Die Überstellungsfrist kann vom MS 2 nicht aufgrund des Umstands, dass die schutzsuchende Person in einem anderen Mitgliedstaat (MS 3) internationalen Schutz beantragt hat, gemäß Art. 29 Abs. 2 Dublin-III-VO verlängert werden. Sie kann in allen Fällen verlängert werden, in denen die schutzsuchende Person flüchtig ist, unabhängig davon, ob sie im Staatsgebiet von MS 2 verbleibt oder es verlässt.

3. MS 3 kann die schutzsuchende Person nach Ablauf der Überstellungsfrist nur in den MS 2 überstellen. Nach Ablauf der dem MS 3 hierfür gemäß Art. 29 Abs. 2 Dublin-III-VO zur Verfügung stehenden Überstellungsfrist, wird MS 3 zuständig. MS 3 wird auch dann zuständig, wenn kein Wiederaufnahmeersuchen in der gemäß Art. 23 Abs. 2 Dublin-III-VO benannten Frist erfolgt (Art. 23 Abs. 3 Dublin-III-VO).

4. MS 3 muss einer schutzsuchenden Person für den Fall, dass MS 2 aufgrund des Ablaufs der Überstellungsfrist gemäß Art. 29 Abs. 2 Dublin-III-VO für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutzes zuständig wird, einen wirksamen und schnellen Rechtsbehelf ermöglichen, mit dem sich die schutzsuchende Person auf den Ablauf der Überstellungsfrist in MS 2 und auf die deshalb gemäß Art. 29 Abs. 2 S. 1 Dublin-III-VO auf MS 2 übergegangene Zuständigkeit berufen kann.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Dublinverfahren, Dublin III-Verordnung, Überstellungsfrist, Weiterreise, Rechtsbehelf, Weiterwanderung, wiederholte Antragstellung,
Normen: VO 604/2013 Art. 29 Abs. 2, VO 604/2013 Art. 29 Abs. 1, VO 604/2013 Art. 23 Abs. 1, VO 604/2013 Art. 23 Abs. 2, VO 604/2013 Art. 27 Abs. 1, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1
Auszüge:

[...]

40 Mit seiner ersten Frage in den Rechtssachen C-323/21 und C-325/21 sowie seiner einzigen Frage in der Rechtssache C-324/21 möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 29 der Dublin-III-Verordnung dahin auszulegen ist, dass, wenn eine Frist für die Überstellung eines Drittstaatsangehörigen zwischen einem ersuchten Mitgliedstaat und einem ersten ersuchenden Mitgliedstaat zu laufen begonnen hat, die Zuständigkeit für die Prüfung des von dieser Person gestellten Antrags auf internationalen Schutz wegen des Ablaufs dieser Frist auf diesen ersuchenden Mitgliedstaat übergeht, obwohl diese Person in der Zwischenzeit in einem dritten Mitgliedstaat einen neuen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, der zur Annahme eines von diesem dritten Mitgliedstaat gestellten Wiederaufnahmegesuchs durch den ersuchten Mitgliedstaat geführt hat. Mit seiner ersten Frage in der Rechtssache C-323/21 fragt das vorlegende Gericht den Gerichtshof auch nach den eventuellen Folgen des Ablaufs dieser Frist für den dritten Mitgliedstaat. [...]

43 Nach Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 der Dublin-III-Verordnung erfolgt die Überstellung der betreffenden Person in den zuständigen Mitgliedstaat, sobald dies praktisch möglich ist und spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs durch diesen Mitgliedstaat oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese aufschiebende Wirkung hat. [...]

45 Art. 29 der Dublin-III-Verordnung enthält somit keine speziellen Regeln für den Fall, dass, obwohl einem von einem ersuchenden Mitgliedstaat gestellten Gesuch über die Wiederaufnahme eines Drittstaatsangehörigen von einem anderen Mitgliedstaat bereits stattgegeben wurde, diese Person einen neuen Antrag auf internationalen Schutz in einem dritten Mitgliedstaat stellt. [...]

52 Was die Modalitäten der Wiederaufnahmeverfahren betrifft, die nach der aufeinanderfolgenden Stellung von Anträgen auf internationalen Schutz in mehreren Mitgliedstaaten eingeleitet wurden, ist festzustellen, dass der Unionsgesetzgeber in den Bestimmungen über die Einleitung und den Ablauf des Wiederaufnahmeverfahrens, und zwar den Art. 23 bis 25 der Dublin-III-Verordnung, nicht danach unterschieden hat, ob dieses Verfahren vom zweiten Mitgliedstaat, bei dem ein Antrag auf internationalen Schutz von einem Drittstaatsangehörigen gestellt wurde, eingeleitet wird oder von einem dritten Mitgliedstaat, bei dem ein solcher Antrag später gestellt wurde. [...]

54 Infolgedessen sind die an den Wiederaufnahmeverfahren beteiligten Mitgliedstaaten in diesen Situationen verpflichtet, die zwingenden Fristen zu beachten, mit denen der Unionsgesetzgeber diese Verfahren versehen hat. [...]

56 Daraus folgt als Erstes, dass die in Art. 23 Abs. 2 der Dublin-III-Verordnung genannten zwingenden Fristen sowohl vom zweiten als auch vom dritten Mitgliedstaat beachtet werden müssen, bei dem von einem Drittstaatsangehörigen ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, wenn diese Mitgliedstaaten ein Wiederaufnahmegesuch stellen. [...]

62 Als Zweites geht aus den Erwägungen in den Rn. 52 bis 54 des vorliegenden Urteils hervor, dass die in Art. 29 Abs. 1 und 2 der Dublin-III-Verordnung enthaltenen Vorschriften über die Überstellungsfrist im Rahmen der Wiederaufnahmeverfahren anwendbar sind, die geführt werden, während der betreffende Drittstaatsangehörige nacheinander Anträge auf internationalen Schutz in mehreren Mitgliedstaaten gestellt hat. [...]

64 Da diese Bestimmung keine spezielle Regelung für den Fall vorsieht, in dem mehreren Wiederaufnahmegesuchen nacheinander zugestimmt wurde, muss daher die auf einen ersuchenden Mitgliedstaat anwendbare Überstellungsfrist ab dem Zeitpunkt berechnet werden, zu dem dem von diesem Mitgliedstaat gestellten Gesuch vom ersuchten Mitgliedstaat zugestimmt wurde, selbst wenn eine Frist für die Überstellung eines Drittstaatsangehörigen zwischen einem anderen ersuchenden Mitgliedstaat und diesem ersuchten Mitgliedstaat schon zu laufen begonnen hat.

65 Außerdem kann in einer solchen Situation, da die verschiedenen Wiederaufnahmeverfahren von jedem der ersuchenden Mitgliedstaaten unabhängig voneinander geführt werden und die Dublin-III-Verordnung keinen Koordinierungsmechanismus vorsieht, der es ermöglicht, von den in Art. 29 dieser Verordnung genannten Regeln abzuweichen, die Überstellungsfrist, die sich daraus ergibt, dass einem ersten Wiederaufnahmegesuch vom ersuchten Mitgliedstaat stattgegeben wurde, nicht deshalb unterbrochen oder verlängert werden, weil einem neuen, von einem anderen Mitgliedstaat gestellten Wiederaufnahmegesuch vom ersuchten Mitgliedstaat stattgegeben wurde. [...]

67 Allerdings hat der Unionsgesetzgeber das Risiko, dass sich die betreffende Person der Durchführung der Überstellungsentscheidung durch Flucht entzieht, ausdrücklich berücksichtigt und in Art. 29 Abs. 2 dieser Verordnung vorgesehen, dass der ersuchende Mitgliedstaat in einer solchen Situation die Überstellungsfrist ausnahmsweise auf höchstens 18 Monate verlängern kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. September 2022, Bundesrepublik Deutschland [Behördliche Aussetzung der Durchführung der Überstellungsentscheidung], C-245/21 und C-248/21, EU:C:2022:709, Rn. 67).

68 Diese Lösung, die den Ausdruck des vom Unionsgesetzgeber festgelegten Gleichgewichts zwischen den verschiedenen Zielen der Dublin-III-Verordnung und den vorliegenden widerstreitenden Interessen darstellt, gilt für alle Fälle von Flucht und damit sowohl dann, wenn die betreffende Person flüchtig ist und im Staatsgebiet des ersuchenden Mitgliedstaats bleibt, als auch dann, wenn sie dieses Gebiet im Laufe ihrer Flucht verlässt. [...]

71 Unter diesen Umständen kann der Umstand, dass die betreffende Person während ihrer Flucht einen neuen Antrag auf internationalen Schutz in einem anderen als dem ersuchenden Mitgliedstaat gestellt hat oder einem neuen Wiederaufnahmegesuch infolge der Stellung eines solchen Antrags stattgegeben wurde, in Ermangelung einer zu diesem Zweck von der Dublin-III-Verordnung vorgesehenen Vorschrift die Unterbrechung oder Verlängerung einer der in Art. 29 dieser Verordnung vorgesehenen zwingenden Fristen nicht rechtfertigen. [...]

72 Wenn die Überstellungsfrist, die sich daraus ergibt, dass dem von einem ersuchenden Mitgliedstaat gestellten Wiederaufnahmegesuch stattgegeben wurde, abgelaufen ist, geht folglich die Zuständigkeit für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz gemäß Art. 29 Abs. 2 der Dublin-III-Verordnung auf diesen ersuchenden Mitgliedstaat über, auch wenn zwischenzeitlich in einem anderen Mitgliedstaat ein neuer Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde oder einem neuen Wiederaufnahmegesuch infolge der Stellung eines solchen Antrags stattgegeben wurde. [...]

76 Insbesondere muss in einer Situation, in der die Überstellungsfrist, die sich daraus ergibt, dass dem von einem ersten ersuchenden Mitgliedstaat gestellten Wiederaufnahmegesuch vom ersuchten Mitgliedstaat stattgegeben wurde, abgelaufen ist, bevor einem neuen, von einem anderen Mitgliedstaat gestellten Wiederaufnahmegesuch stattgegeben wurde, dieser letztgenannte Mitgliedstaat sein Gesuch an diesen ersten ersuchenden Mitgliedstaat richten, da dieser in Anwendung von Art. 29 Abs. 2 der Dublin-III-Verordnung nunmehr als zuständiger Mitgliedstaat anzusehen ist.

77 Was zweitens die Situation betrifft, in der die Zuständigkeit für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz auf einen anderen als den ersuchten Mitgliedstaat übergegangen ist, nachdem einem von einem dritten Mitgliedstaat gestellten Wiederaufnahmegesuch stattgegeben wurde, ist zum einen darauf hinzuweisen, dass die Dublin-III-Verordnung auf den in Art. 3 Abs. 1 dieser Verordnung niedergelegten zentralen Grundsatz gestützt ist, nach dem ein Antrag auf internationalen Schutz nur von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft wird, was bedeutet, dass zu einem gegebenen Zeitpunkt nur ein einziger Mitgliedstaat als der für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständige Mitgliedstaat angesehen werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. April 2019, H. und R., C-582/17 und C-583/17, EU:C:2019:280, Rn. 78).

78 Zum anderen geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervor, dass ein Drittstaatsangehöriger nicht in einen anderen Mitgliedstaat als den zuständigen Mitgliedstaat überstellt werden darf, wenn sich der Übergang der Zuständigkeit für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz aus dem Ablauf einer Verfahrensfrist nach der Stattgabe des Wiederaufnahmegesuchs und dem Erlass einer Überstellungsentscheidung ergibt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 25. Oktober 2017, Shiri, C-201/16, EU:C:2017:805, Rn. 43, und vom 15. April 2021, État belge [Nach der Überstellungsentscheidung eingetretene Umstände], C-194/19, EU:C:2021:270, Rn. 47).

79 Infolgedessen steht der Übergang der Zuständigkeit für die Prüfung des von einem Drittstaatsangehörigen gestellten Antrags auf internationalen Schutz auf einen anderen Mitgliedstaat gemäß Art. 23 oder 29 der Dublin-III-Verordnung der Durchführung einer Entscheidung entgegen, die eine Überstellung der betreffenden Person in einen anderen Mitgliedstaat beinhaltet.

80 In einer solchen Situation ist allerdings hervorzuheben, dass es dem Mitgliedstaat, dessen Überstellungsentscheidung auf diese Weise undurchführbar wird, freisteht, ein Wiederaufnahmegesuch an den Mitgliedstaat zu richten, auf den diese Zuständigkeit übergegangen ist. [...]

86 Nach alledem ist auf die erste Frage in den Rechtssachen C-323/21 und C-325/21 sowie auf die einzige Frage in der Rechtssache C-324/21 zu antworten, dass die Art. 23 und 29 der Dublin-III-Verordnung dahin auszulegen sind, dass, wenn eine Frist für die Überstellung eines Drittstaatsangehörigen zwischen einem ersuchten Mitgliedstaat und einem ersten ersuchenden Mitgliedstaat zu laufen begonnen hat, die Zuständigkeit für die Prüfung des von dieser Person gestellten Antrags auf internationalen Schutz wegen des Ablaufs dieser Frist auf diesen ersuchenden Mitgliedstaat übergeht, auch wenn diese Person in der Zwischenzeit in einem dritten Mitgliedstaat einen neuen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, der zur Annahme eines von diesem dritten Mitgliedstaat gestellten Wiederaufnahmegesuchs durch den ersuchten Mitgliedstaat geführt hat, sofern diese Zuständigkeit nicht wegen des Ablaufs einer der in diesem Art. 23 vorgesehenen Fristen auf diesen dritten Mitgliedstaat übergegangen ist. [...]

88 Mit seiner zweiten Frage in den Rechtssachen C-323/21 und C-325/21 möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 27 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung im Licht des 19. Erwägungsgrundes dieser Verordnung dahin auszulegen ist, dass sich ein Drittstaatsangehöriger, der nacheinander in drei Mitgliedstaaten einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, im Rahmen eines Rechtsmittels, das er nach Art. 27 Abs. 1 dieser Verordnung gegen eine Entscheidung des dritten dieser Mitgliedstaaten über seine Überstellung in den ersten dieser Mitgliedstaaten eingelegt hat, darauf berufen kann, dass nach dem Erlass dieser Überstellungsentscheidung die Zuständigkeit für die Prüfung seines Antrags wegen des Ablaufs der in Art. 29 Abs. 1 und 2 dieser Verordnung vorgesehenen Überstellungsfrist auf den zweiten dieser Mitgliedstaaten übergegangen ist. [...]

93 Ein solcher wirksamer Rechtsbehelf muss dem Antragsteller auf internationalen Schutz insbesondere ermöglichen, sich in dem Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet er sich befindet, gegenüber einem anderen ersuchenden Mitgliedstaat auf den Ablauf der in Art. 29 Abs. 1 und 2 der Dublin-III-Verordnung vorgesehenen Überstellungsfrist zu berufen, da aus Rn. 79 des vorliegenden Urteils hervorgeht, dass die Berücksichtigung des Ablaufs dieser Frist für die korrekte Anwendung dieser Verordnung entscheidend ist. [...]

96 Infolgedessen ist auf die zweite Frage in den Rechtssachen C-323/21 und C-325/21 zu antworten, dass Art. 27 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung, gelesen im Licht des 19. Erwägungsgrundes dieser Verordnung, sowie Art. 47 der Charta der Grundrechte dahin auszulegen sind, dass ein Drittstaatsangehöriger, der nacheinander in drei Mitgliedstaaten einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, im dritten dieser Mitgliedstaaten über einen wirksamen und schnellen Rechtsbehelf verfügen können muss, der ihm ermöglicht, sich darauf zu berufen, dass die Zuständigkeit für die Prüfung seines Antrags auf internationalen Schutz wegen des Ablaufs der in Art. 29 Abs. 1 und 2 dieser Verordnung vorgesehenen Überstellungsfrist auf den zweiten dieser Mitgliedstaaten übergegangen ist. [...]