VG Köln

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Zitieren als:
VG Köln, Urteil vom 13.12.2022 - 17 K 2382/20.A - asyl.net: M31221
https://www.asyl.net/rsdb/m31221
Leitsatz:

Abschiebungsverbot für Person aus dem Irak wegen Konversion zum Christentum:

1. Die Konversion vom Islam zum Christentum steht im Irak zwar nicht unter Strafe, und eine systematische Diskriminierung oder Verfolgung von Konvertiten durch den irakischen Staat findet nicht statt. Allerdings sind "Ungläubige" oft ernsthafter nicht-staatlicher Verfolgung bis hin zu tödlicher Gewalt ausgesetzt, wobei diese oftmals von Familienangehörigen oder Bekannten ausgeht.

2. Je nach Einzelfall droht bei einer Rückkehr in den Irak deshalb eine Verletzung der Rechte aus Art. 9 EMRK (Religionsfreiheit) in einer solchen Intensität, dass gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG ein Abschiebungsverbot festzustellen ist.

3. Personen arabischer Volkszugehörigkeit sind in einer solchen Situation nicht darauf zu verweisen, dass die Situation in der Region Kurdistan-Irak weniger angespannt sei, denn sie müssen mit erheblichen Zugangsbeschränkungen zu der Region rechnen.

(Leitsätze der Redaktion; Anmerkung: Die Entscheidung erging im Zweitantragsverfahren gemäß § 71a AsylG, sodass die Zuerkennung internationalen Schutzes nicht in Betracht kam. Die Wertungen dürften aber hinsichtlich der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und hier der drohenden Verfolgung von Konvertiten und der Frage internen Schutzes übertragbar sein.)

Schlagwörter: Irak, Konvertiten, Religionszugehörigkeit, Religionsfreiheit, Familienmitglieder, nichtstaatliche Verfolgung, interne Fluchtalternative, interner Schutz, Verfolgungsgefahr, Verfolgungsgrund, religiöse Verfolgung, Nordirak, Kurdistan-Irak, KRG
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, EMRK Art. 9, EMRK Art. 3, GR-Charta Art. 10 Abs. 1, AsylG § 3a Abs. 1, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 2, AsylG § 3e Abs. 1
Auszüge:

[...]

Mit Bescheid vom 08.04.2020 lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Klägers als unzulässig ab, da die Voraussetzungen für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens nicht vorlägen. Es stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach§ 60 Abs. 5 und 7 AufenthG nicht vorliegen, forderte den Kläger auf, innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung die Bundesrepublik zu verlassen, und drohte die Abschiebung in den Irak an. [...]

Der Kläger hat hiergegen am 29.04.2020 bei dem Verwaltungsgericht Aachen Klage erhoben und um Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes nachgesucht. Mit Beschluss vom 12.05.2020 hat sich das Verwaltungsgericht Aachen für örtlich unzuständig erklärt und das Verfahren an das zuständige Verwaltungsgericht Köln verwiesen. [...]

1. Die Voraussetzungen von § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG sind auch bei Zweitanträgen (§ 71a AsylG) - wie hier - unabhängig vom Vorliegen der in § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG normierten Wiederaufgreifensvoraussetzungen zu prüfen. [...]

2. Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts sowie des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) ist eine Abschiebung insbesondere dann unzulässig, wenn erhebliche Gründe für die Annahme bestehen, dass der Betroffene im Fall der Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein. [...]

Die Abschiebung eines Ausländers ist danach in solche Nicht-Vertragsstaaten verboten, in denen ihm Maßnahmen drohen, die einen äußersten menschenrechtlichen Mindeststandard unterschreiten. Auch bei Eingriffen in den Kernbereich solcher anderen, speziellen Konventionsgarantien - etwa der Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit nach Art. 9 EMRK - ist eine Abschiebung allerdings ebenfalls nur in krassen Fällen unzulässig, wenn nämlich die drohenden Beeinträchtigungen von ihrer Schwere her dem vergleichbar sind, was nach der Rechtsprechung wegen menschenunwürdiger Behandlung zu einem Abschiebungsverbot nach Art. 3 EMRK führt. [...]

Nach Maßgabe dieser für Art. 3 EMRK entwickelten Anforderungen droht eine offenkundige Verletzung des unveräußerlichen Kerns der Religionsfreiheit nach Art. 9 EMRK, wenn der Betroffene im Zielstaat entweder aus religiösen Gründen Verfolgung erleiden wird oder wegen seiner Religionszugehörigkeit der tatsächlichen Gefahr des Todes, der ernsthaften Misshandlung, der offenkundigen Verweigerung eines fairen Verfahrens oder der willkürlichen Freiheitsentziehung ausgesetzt ist. [...]

Der Schutzbereich der Religionsfreiheit erfasst sowohl die von der Glaubenslehre vorgeschriebenen Verhaltensweisen als auch diejenigen, die der einzelne Gläubige als für sich verpflichtend empfindet. Dabei kann auch der unter dem Druck der genannten Konsequenzen erzwungene Verzicht auf eine Glaubensbetätigung einen hinreichend gravierenden Eingriff in die Religionsfreiheit darstellen. [...]

Ausgehend von diesen Maßstäben liegt für den Kläger ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 9 EMRK vor. Das Gericht ist auf der Grundlage des von dem Kläger vermittelten Eindrucks in der mündlichen Verhandlung zu der Überzeugung gelangt, dass bei ihm eine ernstliche Hinwendung zum christlichen Glauben vorliegt (dazu a). Ausgehend von der Lage von Konvertiten im Irak (dazu b) und unter Berücksichtigung des in der mündlichen Verhandlung vorgespielten Videos sowie des vorgelegten Schreibens des Familienclans ist beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger aufgrund seiner Konversion zum Christentum bei einer Rückkehr in den Irak einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung durch nichtstaatliche Akteure ausgesetzt sein wird (dazu c).

a) Die Hinwendung des Klägers zum Christentum beruht auf einer ernsten religiös motivierten Überzeugung. Die diesbezüglichen Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung sind glaubhaft. [...]

b) Die Lage von Konvertiten im Irak stellt sich wie folgt dar:

Der Abfall vom islamischen Glauben bzw. die Konversion zum Christentum ist im Irak zwar gesetzlich nicht strafbewehrt. [...]

Eine systematische Diskriminierung oder Verfolgung religiöser oder ethnischer Minderheiten durch staatliche Behörden findet demnach nicht statt. [...] Allerdings haben "Ungläubige" gleichwohl nicht mit unerheblichen Repressalien zu rechnen. Iraks Muslime sind nach wie vor der Scharia, dem islamischen Recht (vgl. § 1 PStatutG, a.a.O.), welches den Abfall vom islamischen Glauben, verbietet, untergeordnet. Menschen, die den islamischen Glauben ablegen wollen, sind deshalb oft ernsthafter Verfolgung durch die Gesellschaft ausgesetzt, oftmals durch Familienangehörige oder Bekannte, welche bis hin zu tödlicher Gewalt reichen kann. Feindseligkeiten gegenüber Konvertiten oder Atheisten sind im Irak weit verbreitet. [...]

Viele Konvertiten sind aufgrund der Gefahr, dass ihre Familien gegen sie vorgehen, obdachlos und arbeitslos und haben keinen Zufluchtsort. Wegen des gesellschaftlichen Drucks und der ihnen von der erweiterten Familie oder der Gesellschaft drohenden Gefahren halten christliche Konvertiten ihren Glauben oftmals geheim. [...]

Übergriffe gegen Konvertiten - insbesondere durch Clanstrukturen - sind in arabischen Gebieten dabei tendenziell häufiger als in kurdischen Gebieten. [...]

c) Vor dem Hintergrund dieser Feststellungen sowie nach Würdigung des Vortrages des Klägers sowie der Kläger im Verfahren 17 K 6374.19.A, des vorgespielten Videos und des vorgelegten Schreibens des Familienclans in der mündlichen Verhandlung steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Kläger wegen seiner Konversion im Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Gefahr läuft, an Leib, Leben oder Freiheit verletzt oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung unterworfen zu sein. [...]

3. Der Kläger kann schließlich nicht darauf verwiesen werden, dass die Situation für Christen und Konvertiten in der Region Kurdistan-Irak weniger angespannt sei. [...] Denn der Kläger müsste als Araber mit erheblichen Zugangsbeschränkungen in der Region Kurdistan-Irak rechnen. Der Zuzug wird dort durch ein Registrierungsverfahren kontrolliert. Berichten zufolge soll das Erfordernis eines ortsansässigen Bürgen zwar abgeschafft worden sein, faktisch zum Teil aber weiterhin durchgesetzt werden. Die Einreisebestimmungen sind insgesamt manchmal willkürlich, werden schlecht kommuniziert und unterliegen Änderungen, die sehr kurzfristig bekannt gegeben werden. [...]