VG Leipzig

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Zitieren als:
VG Leipzig, Urteil vom 26.10.2022 - 8 K 414/21.A - asyl.net: M31199
https://www.asyl.net/rsdb/m31199
Leitsatz:

Kein Widerruf des Flüchtlingsschutzes trotz erheblicher strafrechtlicher Verurteilungen:

1. Das aus der Asyl- oder Flüchtlingsanerkennung folgende Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG kann gemäß § 73 Abs. 2a S. 5 AsylG i.V.m. § 60 Abs. 8 S. 1 Var. 2 AufenthG wegen einer Gesamtstrafe gemäß der §§ 53 bis 55 StGB nur widerrufen werden, wenn eine der in die Gesamtstrafe einbezogenen Einzelstrafen eine mindestens dreijährige Freiheitsstrafe ist. § 60 Abs. 8 S. 1 Var. 2 AufenthG findet nur bei Verurteilungen nach Erwachsenenstrafrecht Anwendung; Jugendstrafen bleiben insoweit außer Betracht.

2. Ein Widerruf gemäß § 73 Abs. 2b S. 5 AsylG i.V.m. § 60 Abs. 8 S. 3 AufenthG setzt neben der Verurteilung zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe wegen einer dort aufgeführten Straftat und Begehungsart sowie einer fortdauernden Gefahr für die Allgemeinheit voraus, dass das BAMF das ihr eingeräumte Ermessen ("kann") fehlerfrei ausübt. Dabei hat es insbesondere das Recht auf Achtung des Privatlebens gemäß Art. 8 EMRK und das Recht auf Familienleben nach Art. 6 GG, Art. 7 EMRK zu berücksichtigen, was hinsichtlich des Betroffenen, der als "faktischer Inländer" im Irak entwurzelt und in Deutschland verwurzelt sowie Vater eines deutschen Kindes ist, nicht hinreichend geschehen ist. Ferner ist zu berücksichtigen, inwiefern die betroffene Person in der Lage wäre, sich im Herkunftsland zurechtzufinden.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Irak, Yeziden, Widerruf, Änderung der Sachlage, Straftat, Drogendelikt, Wiederholungsgefahr, faktischer Inländer, Achtung des Familienlebens, Ermessen, Gesamtstrafe, Jugendstrafe,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 8 S. 1, AufenthG § 60 Abs. 8 S. 3, AsylG § 73 Abs. 2b S. 5, GG Art. 6, EMRK Art. 7, EMRK Art. 8
Auszüge:

[…]

Der Kläger wendet sich gegen den Widerruf der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. […]

Die zulässige Klage hat Erfolg. [...]

1. Das Widerrufsverfahren wurde formal ordnungsgemäß durchgeführt. [...]

2. Der Widerruf erweist sich aber in materiell-rechtlicher Hinsicht als rechtswidrig. Es liegen weder die Voraussetzungen des § 73 Abs. 2b Satz 5 i. V. m. § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG (a) noch des § 73 Abs. 2b Satz 5 i. V. m. § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG (b) vor. Der Bescheid kann auch nicht auf der Grundlage des § 73 Abs. 2a Satz 5 AsylG aufrecht erhalten werden (c). [...]

a) Die Voraussetzungen für einen Widerruf des Abschiebungsverbots nach Maßgabe der § 73 Abs. 2b Satz 5 i. V. m. § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG liegen nicht vor.

Nach § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG findet § 60 Abs. 1 AufenthG keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist.

Ein Widerruf der Asyl- und Flüchtlingsanerkennung wegen einer rechtskräftigen Verurteilung zu einer mindestens dreijährigen Freiheitsstrafe (§ 60 Abs. 8 Satz 1 2. Alt. AufenthG) kommt bei einer Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe (§§ 53 bis 55 StGB) nur in Betracht, wenn eine der in die Gesamtstrafe einbezogenen Einzelstrafen eine mindestens dreijährige Freiheitsstrafe ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 31. Januar 2013 - 10 C 17.12 -, juris). Diese Voraussetzungen liegen hier aber nicht vor. Dem Urteil des Amtsgerichts Hof vom 14. Februar 2019 lagen zwei Einzelstrafen von jeweils einem und zwei Jahren Freiheitsstrafe zugrunde.

Im Übrigen erfasst der Anwendungsbereich des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG nur die Verurteilungen nach materiellem Erwachsenenstrafrecht, nicht hingegen Verurteilungen zu einer Jugendstrafe nach dem Jugendgerichtsgesetz. [...]

b) Die Voraussetzungen für einen Widerruf des Abschiebungsverbots nach Maßgabe der § 73 Abs. 2b Satz 5 i. V. m. § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG liegen ebenfalls nicht vor.

aa) Danach kann von der Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.

bb) Gemessen an diesen Maßstäben sind zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (§ 77 Abs. 1 Satz 1 2. Hs. AsylG) zwar die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG erfüllt. Der Kläger ist wegen mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Eigentum zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden, und hat die Straftaten mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen (1). Er stellt zudem weiterhin eine Gefahr für die Allgemeinheit dar (2). Allerdings hat das Bundesamt das ihm im Rahmen des § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG eingeräumte Ermessen nicht ermessensfehlerfrei ausgeübt (3).

(1) Der Kläger ist wegen mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Eigentum zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden, und hat die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen.

(aa) Im Rahmen des § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG ist es unerheblich, ob die erforderliche Strafhöhe von mindestens einem Jahr nur durch die Bildung einer Einheitsjugendstrafe zustande gekommen ist. Anders als § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG ergibt sich aus dem Wortlaut des § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG, dass die erforderliche Strafhöhe durch eine oder mehrere Straftaten erreicht werden kann. [...]

(bb) Wie sich aus den Feststellungen des Amtsgerichts Leipzig [...] – an denen das Gericht keinen Zweifel hat und die von den Beteiligten auch nicht angegriffen worden sind – ergibt, ist der Kläger wegen mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Eigentum zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden und hat die Straftaten zum Teil mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen. [...]

Demgegenüber unterfällt die Aburteilung aus dem Jahr 2019 [...], in der der Kläger wegen Betäubungsmitteldelikten verurteilt worden ist, nicht dem Anwendungsbereich des § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG. [...]

(2) Es ist davon auszugehen, dass der Kläger im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet.

(aa) Dabei ist nicht allein auf die rechtskräftige Verurteilung zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr abzustellen. Es ist vielmehr eine anhand aller Umstände des Einzelfalls vorzunehmende Abwägung des öffentlichen Interesses an der Ausreise mit dem Interesse des Ausländers erforderlich, nicht in seinen Herkunftsstaat ausreisen zu müssen. [...]

Eine rechtskräftige Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren führt deshalb nur dann zum Ausschluss eines Abschiebungsverbots, wenn im Einzelfall eine konkrete Wiederholungsgefahr festgestellt wird. Erforderlich ist eine zukunftsgerichtete Prognose. [...]

(bb) Gemessen daran ist unter Berücksichtigung der individuellen Umstände des Klägers (noch) von einer weiterhin bestehenden Wiederholungsgefahr auszugehen. [...]

Zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts bestehen konkrete Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger erneut eine der in § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG genannten Straftaten begehen wird, etwa, um seinen Lebensunterhalt aufzubessern oder weil ihm die Begehung deliktischer Handlungen als Ausweg aus einer als belastend empfundenen Einzel- oder Gesamtsituation erscheint (vgl. dazu VG Trier, Urt. v. 6. Oktober 2020 - 1 K 25/20.TR -, juris Rn. 38). [...]

Die vom Kläger ausgehenden Gefahren für die Allgemeinheit sind (noch) hinreichend konkret, weil sich seine persönliche und finanzielle Lage nicht derart maßgeblich verändert hat, dass der Beurteilung nunmehr eine andere Prognose zugrunde zu legen wäre. [...]

(3) Die Beklagte hat das ihr im Rahmen von § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG eingeräumte Ermessen allerdings nicht ermessensfehlerfrei ausgeübt. [...]

Im Rahmen der Beendigung eines Aufenthaltsrechts in Deutschland – sei es durch Ausweisung wegen Straftaten oder durch Widerruf eines asylbezogenen Aufenthaltstitels – ist das Recht auf Achtung des Privatlebens nach Art. 8 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 - EMRK - zu berücksichtigen. [...]

Zudem ist die nach Art. 6 GG, Art. 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom 26. Oktober 2012 - GRCh - und Art. 8 EMRK geschützte familiäre Beziehung des Klägers zu seinem Kind als gewichtiger Abwägungsgesichtspunkt zu berücksichtigen. [...]

Diese Erwägungen hat das Bundesamt im Rahmen seiner Ermessenserwägungen nicht in vollem Umfang berücksichtigt. Es hat nicht dem Umstand hinreichend Rechnung getragen, dass der Kläger seit mehr als 22 Jahren im Bundesgebiet lebt und im Alter von fünf Jahren eingereist ist (vgl. VG Aachen, Urt. v. 22. Juni 2022 - 4 K 2605/20.A -, juris Rn. 24). Weiter ist zu berücksichtigen, dass er sich jedenfalls ab 2010 rechtmäßig mit einer Niederlassungserlaubnis im Bundesgebiet aufgehalten hat, nachdem er im Jahr 2000 als Flüchtling anerkannt worden war und somit ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse vorliegt (vgl. VG München, Urt. v. 24. Juni 2021 - M 24 K 20.3444 -, juris Rn. 54). Der Kläger ist "faktischer Inländer", da er zur Überzeugung des Gerichts im Bundesgebiet ausreichend verwurzelt und aus dem Land seiner Staatsangehörigkeit, dem Irak, "entwurzelt" ist (vgl. dazu VG München, Urt. v. 24. Juni 2021 - M 24 K 20.3444 -, juris Rn. 54). Zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts ist er im erforderlichen Maße sozial und beruflich in die deutschen Lebensverhältnisse integriert. Er lebt seit frühestem Kindesalter im Bundesgebiet, er spricht fließend Deutsch und hat hier die gesamte Schulzeit verbracht. Mit einer deutschen Staatsangehörigen hat der Kläger einen Sohn. Auch mit seiner langjährigen Lebenspartnerin, mit der er sechs Jahren liiert ist, spricht er nach seinen Angaben nur deutsch. Der Kläger hat weiter angegeben, dass er "eingedeutscht" sei und seit jeher Probleme mit seiner Familie gehabt habe, weil er eine deutsche Frau und ein deutsches Kind habe, Schweinefleisch esse und weil er alles mache, was "seine" Leute ablehnten [...]. Es ist bei einer Gesamtbetrachtung der Lebensumstände des Klägers eine "Entwurzelung" aus der irakischen Gesellschaft anzunehmen, weil er sich einen "westlichen" Lebensstil zu eigen gemacht hat und er das Land bereits zu seinem 5. Lebensjahr verlassen hat. Seine prägende Kindheit und Adoleszenz hat der Kläger in Deutschland verbracht; den Irak hat er nach eigenen Angaben nicht mehr besucht. Auch Bräuche und Sitten der irakischen Gesellschaft kennt der Kläger nach seinen Angaben nicht. Dass der "Deutscheste" aus der Familie in den Irak zurückkehren müsse, wäre nach seinen Angaben vor allem für seine (traditionell eingestellten) Eltern eine absolute Genugtuung.

Die Einzelrichterin ist aufgrund der Einlassungen des Klägers in der mündlichen Verhandlung auch zu der Überzeugung gelangt, dass er eine enge und auch schützenswerte Vater-Kind-Beziehung zu [...] "lebt". [...]

Das Bundesamt hat zudem nicht berücksichtigt, dass der Kläger im Falle einer Rückkehr in den Irak so erheblich von den dortigen Lebensverhältnissen betroffen wäre, dass sich daraus ein gegen den Widerruf des Schutzstatus einzuwendendes Interesse ergibt. Insbesondere unter Berücksichtigung seines langen Aufenthalts im Bundesgebiet, seiner Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft der Jesiden und der Verfolgung der irakischen Jesiden durch den IS besonders ab dem Jahr 2014, war sein Interesse daran, sich nicht erneut im Irak zurechtfinden zu müssen, im Rahmen der Ermessenentscheidung zu berücksichtigen [...]

Es ist zur Überzeugung der Einzelrichterin nahezu ausgeschlossen, dass der Kläger im Irak in der Lage wäre, sich ohne Kenntnisse der Gepflogenheiten des Landes und ohne soziale Kontakte auf dem ohnehin kompetitiven Arbeitsmarkt durchzusetzen, um sein Existenzminimum zu erwirtschaften. [...]

Vor diesem Hintergrund setzen sich die Bleibeinteressen des Klägers in seinem Einzelfall bei der Gesamtabwägung über die erheblichen staatlichen Ausweisungsinteressen durch. [...]