VG Bremen

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Zitieren als:
VG Bremen, Urteil vom 09.12.2022 - 7 K 2038/21 - asyl.net: M31191
https://www.asyl.net/rsdb/m31191
Leitsatz:

Abschiebungsverbot für alleinerziehende Mutter aus Albanien:

Eine psychisch erkrankte, alleinerziehenden Mutter mit drei minderjährigen Kindern wird in Albanien ohne Berufserfahrung und Zugang zu einem tragfähigen sozialen Netzwerk nicht in der Lage sein, eine existenzsichernde Grundversorgung zu erlangen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Albanien, Abschiebungsverbot, alleinerziehend, Existenzminimum, Sozialhilfe, Existenzgrundlage, minderjährig,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, EMRK Art. 3, GR-Charta Art. 4,
Auszüge:

[…]

2. Die Klägerinnen haben jedoch einen Anspruch auf die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG in Bezug auf Albanien. [...]
Im besonderen Einzelfall der Klägerinnen - einer psychisch erkrankten, alleinerziehenden Mutter ohne Berufserfahrung und ohne Zugang zu einem tragfähigen sozialen Netzwerk mit drei minderjährigen Töchtern (im Alter von 9 Monaten sowie 4 und 11 Jahren) - ist nicht zu erwarten, dass diese in der Lage sein werden, in Albanien eine zumindest existenzsichernde Grundversorgung zu erlangen.

Der erkennende Einzelrichter ist zunächst überzeugt, dass die Klägerinnen sowie die im […] 2022 geborene dritte Tochter der Klägerin zu 1. im Falle einer Rückkehr nach Albanien völlig auf sich alleine gestellt wären. Die Klägerin zu 1. hat in der mündlichen Verhandlung glaubhaft geschildert, wie sie sich endgültig von ihrem Ehemann getrennt hat. Zudem hat sie anschaulich berichtet, dass ihr als Ehefrau die alleinige Schuld für die Zerrüttung ihrer Ehe sowohl von Seiten der Familie ihres Ehemannes als auch von Seiten der männlichen "Oberhäupter" ihrer eigenen Familie zugeschrieben wird. Aus diesem Grund können die Klägerinnen von beiden Familien keinerlei Unterstützung mehr erwarten. […]

Zwar gewährt der albanische Staat Sozialhilfe und bestimmt als Empfänger von Geldleistungen insbesondere Familien mit keinem oder geringem Einkommen; der monatliche Sozialhilfesatz bewegt sich jedoch zwischen 3.600 ALL (ca. 27 Euro) und 8.000 ALL (ca. 57 Euro) für Familienoberhäupter (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht im Hinblick auf die Einstufung von Albanien als sicheres Herkunftsland im Sinne des § 29a AsylG vom 2. Oktober 2020, Stand: September 2020, S. 14) und damit auf einem vergleichsweise sehr niedrigen Niveau. Personen in Albanien mit einem monatlichen Pro-Kopf-Einkommen unter 60 US-Dollar gelten als von absoluter Armut betroffen; der Mindestlohn in Albanien beträgt derzeit umgerechnet ca. 245 Euro (vgl. Auswärtiges Amt a.a.O. S. 6). Es ist auch nicht zu erwarten, dass die Klägerin zu 1. ergänzend durch Erwerbstätigkeit ein ausreichendes Einkommen für die Versorgung einer vierköpfigen Familie erwirtschaften können wird. Zunächst muss die Klägerin vornehmlich die Sorge für drei minderjährige Töchter - darunter ein Kind, das sein erstes Lebensjahr noch nicht vollendet hat - tragen. Zudem verfügt die Klägerin zu 1. nach ihren glaubhaften Angaben über keinerlei nennenswerte Berufserfahrung und hat den von ihr erlernten Beruf der Friseurin noch nie ausgeübt.

Bei einer Gesamtschau hält der Einzelrichter es daher im konkreten Einzelfall für beachtlich wahrscheinlich, dass die Klägerinnen bei einer Rückkehr nach Albanien in eine ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG rechtfertigende existenzbedrohende Notlage geraten würden. [...]