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VG Wiesbaden

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Zitieren als:
VG Wiesbaden, Urteil vom 17.11.2022 - 4 K 3363/17.WI.A - asyl.net: M31189
https://www.asyl.net/rsdb/m31189
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für junge Frau aus Afghanistan:

1. Jedenfalls alleinstehenden Frauen, die über keinen männlichen Schutz verfügen und längere Zeit im (westlichen) Ausland gelebt haben, drohen in Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen durch staatliche und nichtstaatliche Akteure.

2. Insoweit ist von einer Verfolgung aufgrund der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG auszugehen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, geschlechtsspezifische Verfolgung, Frauen, Upgrade-Klage, Verwestlichung, alleinstehende Frauen, Kumulierung, soziale Gruppe,
Normen: AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3a Abs. 1 Nr. 1, AsylG § 3a Abs. 2 Nr. 1, AsylG § 3a Abs. 2 Nr. 6, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4,
Auszüge:

[...]

Für das Gericht steht fest, dass der Klägerin bei einer Rückkehr nach Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine geschlechtsspezifische Verfolgung gemäß § 3 Abs. 1 i.V.m. § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbs. 4 AsylG droht.

Im Rahmen der Rückkehrprognose ist dabei davon auszugehen, dass die ledige Klägerin als alleinstehende junge Frau ohne männliche Verwandtschaft nach Afghanistan zurückkehren wird. Zwar lebt der Bruder der Klägerin, ein ebenfalls zwischenzeitlich volljähriger junger Mann ebenfalls im Bundesgebiet. Bei erwachsenen Geschwistern kann jedoch nicht angenommen werden, dass im Rahmen einer realitätsnahen Rückkehrprognose die Rückkehr gemeinschaftlich erfolgt. Beide leben zudem im Bundesgebiet zwischenzeitlich getrennt voneinander in unterschiedlichen Haushalten.

Es besteht für die Klägerin als alleinstehende Frau ohne männlichen Schutz bei einer Rückkehr nach Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr einer geschlechtsspezifischen Verfolgung. Das Gericht geht angesichts der derzeitigen Erkenntnismittellage davon aus, dass jedenfalls alleinstehende afghanische Frauen, die über keinen männlichen Schutz verfügen und längere Zeit im (westlichen) Ausland gelebt haben, in Afghanistan je nach den Umständen des Einzelfalls auch ohne eine Vorverfolgung oder Vorschädigung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen durch staatliche und nichtstaatliche Akteure zumindest in der Form von Menschenrechtsverletzungen oder Diskriminierungen, die in ihrer Kumulierung einer schwerwiegenden Verletzung der grundlegenden Menschenrechte gleichkommen (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG), ausgesetzt sein können. Insbesondere drohen ihnen die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt (§ 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylG) und sonstige Handlungen, die an ihre Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen (§ 3a Abs. 2 Nr. 6 AsylG). Insoweit ist von einem Verfolgungsgrund nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbs. 4 AsylG auszugehen.

Dies alles deckt sich zudem mit den dem Gericht vorliegenden Erkenntnisquellen, aus denen sich ergibt, dass die Situation von Frauen, die gegen vorherrschende konservativ-islamische Moralvorstellungen verstoßen haben, mit Diskriminierungen, Verfolgungen und Misshandlungen bis hin zu Tötungen einhergeht. [...]

Es kann im vorliegenden Fall dahingestellt bleiben, ob die aktuelle Erkenntnismittellage nunmehr den Schluss zulässt, dass jede afghanische Frau im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan einer geschlechtsspezifischen Verfolgung ausgesetzt wäre oder ob es hierfür weiterhin einer Beurteilung der konkreten Umstände des Einzelfalles darf, d.h. die individuelle Situation der Frau nach ihrer Stellung und dem regionalen und sozialen, insbesondere familiären Hintergrund zu berücksichtigen ist [...].

Es besteht für die Klägerin als alleinstehende Frau ohne männlichen Schutz bei einer Rückkehr nach Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr einer geschlechtsspezifischen Verfolgung. [...]

Die der Klägerin drohende Verfolgung basiert auch auf einem Verfolgungsgrund im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 3b AsylG, hier in Form der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG. In Auswertung der Erkenntnisse unterliegt es keinem Zweifel, dass Frauen, deren Verhalten als nicht mit den von der Gesellschaft, der Tradition und dem Gesetz auferlegten Geschlechterrollen vereinbar angesehen wird, einer geschlechtsspezifischen, von den individuellen Umständen abhängigen Verfolgung unterliegen. Diese Frauen, die gegen vorherrschende konservativ-islamische Moralvorstellungen verstoßen haben oder werden, teilen angeborene Merkmale und zusätzlich einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, und bilden eine Gruppe, die in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. [...]

Es kann hier offenbleiben, ob in Afghanistan überhaupt noch sichere Landesteile im Sinne des § 3e AsylG existieren, in denen sich die Lage für Frauen anders darstellt, da der Klägerin eine innerstaatliche Schutzalternative jedenfalls nicht zumutbar ist.

Interner Schutz scheidet aus, wenn die Situation am vermeintlichen Schutzort einen Verstoß gegen § 4 Abs. 1 AsylG oder Art. 3 EMRK begründen würde. Fehlt es am Ort internen Schutzes an der Sicherung einer Existenzgrundlage, scheidet interner Schutz auch dann aus, wenn im Herkunftsgebiet die Lebensverhältnisse gleichermaßen schlecht wären (BVerwG, Urt. v. 29.05.2008, 10 C 11.07, NVwZ 2008, 1246, Rn. 32).

Zwischen den Anforderungen an die Zumutbarkeit der inländischen Fluchtalternative und der (fehlenden) Art. 3 EMRK-Widrigkeit bei der Zuerkennung zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote gibt es einen wertungsmäßigen Gleichlauf (BVerwG, Urteil vom 18. Februar 2021 – 1 C 4/20 –, juris). Denklogisch ist daher zwingend eine zumutbare inländische Fluchtalternative ausgeschlossen, wenn Klägern in ganz Afghanistan eine Art. 3 EMRK-widrige Behandlung droht und daher ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG festgestellt wurde.

So liegt der Fall hier. Die Beklagte hat mit Bescheid vom 16.05.2017 für die Klägerin ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG bestandskräftig festgestellt. Auch das Gericht teilt diese Auffassung, dass der Klägerin im Falle ihrer Rückkehr aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Gesamtlage eine Art. 3 EMRK-widrige Behandlung in Afghanistan droht. [...]