Auswärtiges Amt

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Zitieren als:
Auswärtiges Amt, Erlass/Behördliche Mitteilung vom 09.09.2022 - 508-543.53/2 (Asylmagazin 1-2/2023, S. 34 f.) - asyl.net: M31184
https://www.asyl.net/rsdb/m31184
Leitsatz:

Anträge auf Familiennachzug sind entsprechend der Klärung des Beurteilungszeitpunkts der Minderjährigkeit durch den EuGH zu entscheiden

Der EuGH hat am 1.8.2022 entschieden, dass es beim Elternnachzug (asyl.net: M30811) und beim Kindernachzug (asyl.net: M30815) zu anerkannten Flüchtlingen auf die Minderjährigkeit zum Zeitpunkt des Asylantrages ankommt. Dementsprechend ist wie folgt zu verfahren:

1. Visumsanträge zum Familiennachzug zu Minderjährigen, die kurz vor Vollendung des 18. Lebensjahrs stehen, sind mit höchster Priorität zu behandeln, um eine rechtzeitige Einreise zu ermöglichen.

2. Entscheidungsreife Anträge auf Elternnachzug sind wie folgt zu behandeln:

Bei Visumsanträgen zum Elternnachzug zu Kindern, bei denen das Kind bei der Entscheidung über den Visumsantrag der Eltern nicht mehr minderjährig ist, gilt das Kind dennoch als minderjährig im Sinne von § 36 AufenthG, wenn

    • das Kind zum Zeitpunkt seines Asylantrags minderjährig war, und
    • das Kind zum Zeitpunkt seines Asylantrags unbegleitet war, und
    • der Visumsantrag innerhalb von drei Monaten nach Flüchtlingsanerkennung des Kindes gestellt worden ist.

Wurde der Visumsantrag der Eltern nicht innerhalb von drei Monaten nach Flüchtlingsanerkennung des Kindes gestellt und war das Kind beim Visumsantrag volljährig, ist der Antrag wie bisher abzulehnen.

3. Nicht entscheidungsreife Anträge auf Elternnachzug sind wie folgt zu behandeln:

Visumsverfahren zum Elternnachzug zu Kindern, bei denen die Volljährigkeit erst während des Visumsverfahrens der Eltern eintritt, bleiben vorerst ruhend gestellt, wenn der Visumsantrag nicht innerhalb von drei Monaten nach Flüchtlingsanerkennung des Kindes gestellt wurde. Gleiches gilt für Visumsverfahren zum Elternnachzug, bei denen das Kind zum Zeitpunkt seines Asylantrages nicht unbegleitet war.

4. Anträge auf Kindernachzug

Bei Visumsanträgen zum Kindernachzug zu den Eltern, bei denen das Kind nach Stellung des Asylantrags der Eltern, aber vor Stellung des Visumsantrags volljährig wird, gilt das Kind als minderjährig im Sinne von § 32 AufenthG, wenn der Visumsantrag innerhalb von drei Monaten nach Flüchtlingsanerkennung der Eltern gestellt worden ist.

Rechtsprechung:

• EuGH, Urteil vom 12.04.2018 - C-550/16 A. und S. gg. Niederlande - Asylmagazin 5/2018, S. 176 ff. - asyl.net: M26143

• EuGH, Urteil vom 16.07.2020 - C-133/19, C-136/19, C-137/19 B.M.M. u.a. gg. Belgien - asyl.net: M28868

• BVerwG, Beschluss vom 23.04.2020 - 1 C 9.19, 1 C 10.19 - asyl.net: M28542

• EuGH, Urteil vom 01.08.2022 - C-273/20, C-355/20 Deutschland gg. SW, BL und BC (Asylmagazin 9/2022, S. 326 f.) - asyl.net: M30811

• EuGH, Urteil vom 01.08.2022 - C-279/20 Deutschland gg. XC (Asylmagazin 9/2022, S. 323 ff.) - asyl.net: M30815

Schlagwörter: Elternnachzug, Kindernachzug, Beurteilungszeitpunkt, minderjährig, unbegleitete Minderjährige, Familienzusammenführung, Schutz von Ehe und Familie, familiäre Lebensgemeinschaft, Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen, Familienzusammenführungsrichtlinie, Familiennachzug, Asylverfahren, Volljährigkeit, Frist, Asylantrag, Flüchtlingsanerkennung, A. und S., A und S, SW, BL, BC
Normen: RL 2003/86/EG Art. 16 Abs. 1 Bst. a, RL 2003/86/EG Art. 10 Abs. 3 Bst. a, RL 2003/86/EG Art. 2 Bst. f, RL 2003/86/EG Art. 13 Abs. 2, RL 2003/86/EG 16 Abs. 1 Bst. b, AufenthG § 25 Abs. 2, AufenthG § 36 Abs. 1, AufenthG § 32,
Auszüge:

[...]

1. Entscheidungsreife Anträge auf Elternnachzug (§ 36 AufenthG)

Für ruhendgestellte und neue Anträge prüfen Sie bitte wie folgt:

Ist das Kind bei der Entscheidung über den Visumantrag nicht minderjährig, gilt es dennoch als minderjährig im Sinne von § 36 AufenthG, wenn

(1.) das Kind zum Zeitpunkt seines Asylantrages minderjährig war (der formlose Antrag genügt) und

(2.) das Kind zum Zeitpunkt seines Asylantrages unbegleitet war, d.h. sich nicht in der Obhut eines oder einer Verwandten befand, und

(3.) der Visumantrag (von den Eltern, dem Kind selbst oder dessen Vormund) innerhalb von drei Monaten nach Anerkennung des Kindes als Flüchtling gestellt worden ist.

Im Übrigen sind dann die regulären Voraussetzungen des§ 36 AufenthG zu prüfen.

Wurde der Visumantrag nicht innerhalb von drei Monaten nach Anerkennung gestellt und war das Kind beim Visumantrag volljährig, ist der Antrag wie bisher abzulehnen (vgl. Weisung vom 07.12.2021). Wurde das Kind erst im Visumverfahren volljährig oder war das Kind zum Zeitpunkt seines Asylantrages nicht unbegleitet, siehe II.

Bei Erteilungsreife ist ein D-Visum für 90 Tage auszustellen. Als Rechtsgrundlage vermerken Sie im Freifeld bitte "Familienzusammenführung" und etwaige notwendige Zusätze, nicht aber § 36 AufenthG. Das Visum wird in Umsetzung der EuGH-Entscheidungen Rs. C-273/20 und C-355/20 erteilt. Bis zur Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts ist offen, ob der § 36 AufenthG europarechtskonform ausgelegt werden kann oder eine Gesetzesänderung notwendig ist. Sofern eine Gesetzesänderung erforderlich ist, wäre die Familienzusammenführungsrichtlinie (2003/86/EG) in ihrer Auslegung durch den EuGH unmittelbar anzuwenden.

II. Nicht entscheidungsreife Anträge auf Elternnachzug (§ 36 AufenthG)

Vorerst ruhendgestellt bleiben Verfahren, in denen die Volljährigkeit des UMF erst während des Visumverfahrens eintritt und der Visumantrag nicht innerhalb von drei Monaten nach Anerkennung des Kindes als Flüchtling gestellt worden ist. Ebenso bleiben Verfahren ruhendgestellt, in denen das Kind zum Zeitpunkt seines Asylantrages nicht unbegleitet war. Neue Anträge auf Elternnachzug, die diese Voraussetzungen erfüllen, sollen zurückgestellt und auf Wiedervorlage in drei Monaten gelegt werden.

Hintergrund: Es besteht noch Klärungsbedarf, ob die Drei-Monatsfrist bei Volljährigkeit im Visumverfahren anwendbar ist und wie mit Fällen umzugehen ist, in denen das Kind bei Asylantragstellung nicht unbegleitet war.

Bei Nachfragen weisen Sie bitte auf die Komplexität der Rechtsfragen in diesen besonders gelagerten Fällen hin, die noch geklärt werden müssen, und bitten Sie die Antragstellenden um Geduld.

III. Anträge auf Kindernachzug (§ 32 AufenthG)

Für Anträge nach § 32 AufenthG auf Kindernachzug zum anerkannten Flüchtling folgt aus EuGH-Entscheidung zum Kindernachzug (Rs. C-279/20):

• Wird das Kind während des Visumverfahrens volljährig, ist wie bisher eine Doppelprüfung der Erteilungsvoraussetzungen vorzunehmen (Vorliegen aller Erteilungsvoraussetzungen sowohl einen Tag vor der Volljährigkeit sowie am Entscheidungstag abgesehen von der Minderjährigkeit)

• Wurde das Kind nach Stellung des Asylantrages (formloser Asylantrag genügt), aber vor Stellung des Visumantrags volljährig, so gilt das Kind als minderjährig im Sinne von § 32 AufenthG, wenn der Visumantrag innerhalb von drei Monaten nach Anerkennung gestellt worden ist. Im Übrigen sind die sonstigen Voraussetzungen von § 32 AufenthG zu prüfen. Auch hier ist wie üblich eine Doppelprüfung vorzunehmen.

Bei Erteilungsreife ist ein D-Visum für 90 Tage zu erteilen. Als Rechtsgrundlage vermerken Sie im Freifeld bitte "Familienzusammenführung" und etwaige notwendige Zusätze, nicht aber § 32 AufenthG. Das Visum wird in Umsetzung der EuGH-Entscheidung Rs. C-279/20 erteilt. Bis zur Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts ist offen, ob der§ 32 AufenthG europarechtskonform ausgelegt werden kann oder eine Gesetzesänderung notwendig ist. Sofern eine Gesetzesänderung notwendig ist, wäre die Familienzusammenführungsrichtlinie (2003/86/EG) in ihrer Auslegung durch den EuGH unmittelbar anzuwenden.

IV. Hinweis

509-9 wird entsprechend in ruhend gestellten Klageverfahren vorgehen. Die AVs werden gegebenenfalls per Einzelfallweisung von dort um kurzfristige Erteilung gebeten.

V. Berichte an 508 und 510

Wir bitten Sie um formlose Berichte unter Angabe des Gz. an 508-Rl und an 510-R

- Kurzfristig (möglichst bis zum 16.09.2022): in welchem Zeitraum Sie die Fälle voraussichtlich abarbeiten können;

- Monatlich (zum 1. des Monats): wie der Stand der abgearbeiteten und noch nicht bearbeiteten Altfälle ist. [...]