VG Oldenburg

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Zitieren als:
VG Oldenburg, Urteil vom 13.07.2022 - 6 A 567/21 - asyl.net: M31176
https://www.asyl.net/rsdb/m31176
Leitsatz:

Keine Gruppenverfolgung homosexueller Personen in Russland:

Trotz der schwierigen Situation für homosexuelle Menschen ist weder ein Verfolgungsprogramm des Staates festzustellen, noch sind die Übergriffe so zahlreich, dass alle homosexuellen Personen befürchten müssten, einen Übergriff zu erleiden.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Russische Föderation, homosexuell, Gruppenverfolgung,
Normen: AsylG § 3, AslylG § 4, AufenthG § 60 Abs. 5
Auszüge:

[...]

Der Einzelrichter geht mit dem Bundesamt davon aus, dass der Kläger homosexuell ist. [...]

Eine Gruppenverfolgung kann der Kläger gleichwohl nicht mit Erfolg geltend machen. Die Lage für Homosexuelle stellt sich in der Russischen Föderation wie folgt dar (Bayerischer VGH, Urteil vom 19. April 2021 - 11 B 19.30575 -, juris Rn. 45 bis 60):

"Homosexualität ist in Russland seit 1993 nicht mehr strafbar. Homophobie ist jedoch dem Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 2. Februar 2021 zufolge weit verbreitet, und zwar auch unter den Sicherheitskräften. Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender und Intergeschlechtliche (LGBTI-Personen) müssten mit Diskriminierungen bis hin zu physischen Übergriffen rechnen. Der staatliche Schutz vor solchen Übergriffen sei unzureichend. Werde Anzeige erstattet, weigere sich die Polizei häufig, diese aufzunehmen, wenn das Opfer den homophoben Hintergrund der Tat benenne. Am stärksten gefährdet seien Transgender aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbilds und Personen, die sich öffentlich für die Rechte von LGBTI-Personen einsetzen. In seiner vom Senat eingeholten Auskunft vom 27. Januar 2020 beschreibt das Auswärtige Amt die allgemeine Situation für Homosexuelle in der Russischen Föderation auch außerhalb des Nordkaukasus als schwierig. Medienberichten zufolge sei es in der Zeit von 2011 bis 2016 zu mindestens 363 tätlichen Angriffen auf Homosexuelle oder Einrichtungen wie Schwulenclubs gekommen. Für die Jahre 2016 und 2017 würden 366 Übergriffe verzeichnet. Weil zahlreiche Opfer aus Angst vor der Polizei keine Anzeige erstatten würden, sei tatsächlich von einer höheren Zahl von Übergriffen durch nichtstaatliche Akteure auszugehen. Allerdings seien regionale Unterschiede festzustellen. In Großstädten gebe es eine aktive Szene und Möglichkeiten zur offenen Lebensgestaltung für LGBTI-Personen. Die tolerantesten Städte seien St. Petersburg, Nowosibirsk und Moskau.

In Antworten zu parlamentarischen Anfragen beurteilt die Bundesregierung die Situation Homosexueller in der Russischen Föderation ebenfalls kritisch. LGBTI-Personen würden regelmäßig Opfer von Diskriminierung und auch homophober Gewalt. Gewalttätige Straftaten gegen LGBTI-Personen würden nicht mit ausreichender Konsequenz verfolgt und in vielen Fällen nicht umfassend aufgeklärt und bestraft (BT-Drs. 19/3108 S. 9 f. und 19/9077 S. 14).

Auch Amnesty International berichtet in seiner Auskunft vom 11. September 2020, Diskriminierungen von LGBTI-Personen seien an der Tagesordnung; immer wieder gebe es gewaltsame Übergriffe. Das "Propagandagesetz" trage zu einer staatlichen Legitimierung LGBTI-feindlicher Ansichten in der Bevölkerung bei, schüre das feindliche Klima für LGBTI-Personen und habe auf diese eine abschreckende Wirkung. Die Behörden würden LGBTI-Personen keinen angemessenen Schutz vor Angriffen gewähren und Gewalttaten oft nicht hinreichend aufklären. Die mangelnde Strafverfolgung führe in der Konsequenz zu Straffreiheit und einer Zunahme an Gewalt.

Die Schweizerische Flüchtlingshilfe berichtet in ihrer Auskunft vom 17. Juli 2020 ebenfalls über weit verbreitete und zunehmende Diskriminierungen von LGBTI-Personen und eine mehrheitlich negative Einstellung gegenüber Homosexuellen, nicht zuletzt aufgrund von Einflussnahmen der Russisch-Orthodoxen Kirche und der Massenmedien. Neben außergesetzlicher Verfolgung im Nordkaukasus und durch einzelne Polizeibeamte werde auch das "Propagandagesetz" eingesetzt, um die Meinungsfreiheit hinsichtlich der Rechte von LGBTI-Personen einzuschränken. Dieses Gesetz habe die soziale Feindseligkeit gegen LGBTI-Personen noch verstärkt. LGBTI-Aktivisten würden immer mehr zur Zielscheibe des Innenministeriums und des Inlandsgeheimdienstes. LGBTI-Personen seien in hohem Maße psychischer und physischer Gewalt ausgesetzt. Erstere werde meist durch Bekannte verübt, Letztere sowohl durch Unbekannte als auch durch Bekannte, ideologische Gruppen oder die eigene Familie. Homosexuelle Männer, die ihre geschlechtliche Orientierung offen leben würden, seien gesellschaftlicher Gewalt in besonderem Maß ausgesetzt. Unter LGBTI-Personen sei die Angst vor illegalen und außergesetzlichen Aktionen der Polizei weit verbreitet; sie hätten wenig oder gar kein Vertrauen in die Polizei und in die Gerichte und würden gegen sie gerichtete Gewalt deshalb oft nicht melden. Statistisch gesehen seien LGBTI-Personen auf dem Land und in Kleinstädten stärker gefährdet. Am sichersten seien gemessen an der Einwohnerzahl die größten Städte wie Moskau und St. Petersburg. Hinsichtlich des ungenügenden Schutzes durch die Polizei seien regionale Unterschiede nicht festzustellen.

(3) Trotz dieser ohne Zweifel schwierigen Situation für Homosexuelle ist jedoch mit Ausnahme Tschetscheniens in der Russischen Föderation weder ein staatliches Verfolgungsprogramm festzustellen noch sind die Übergriffe so zahlreich, dass jede LGBTI-Person begründet befürchten müsste, in Anknüpfung an ihre sexuelle Orientierung selbst Opfer von Übergriffen zu werden. Dies gilt jedenfalls für Homosexuelle, die - wie der zuletzt in einer vergleichsweise sicheren Stadt wie St. Petersburg lebende Kläger - nicht zum Kreis der öffentlich oder in den sozialen Medien auftretenden LGBTI-Aktivisten zählen und die auch durch ihr äußeres Erscheinungsbild nicht als LGBTI-Person auffallen. Damit sind die Voraussetzungen einer Gruppenverfolgung nicht erfüllt. [...]"

Diesen Ausführungen schließt sich der Einzelrichter auch unter Berücksichtigung aktueller Erkenntnismittel (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 2. Februar 2021 in der Fassung vom 21. Mai 2021, Seiten 9 und 10) und der vom Kläger im gerichtlichen Verfahren vorgelegten bzw. erwähnten Unterlagen an. Trotz der ohne Zweifel schwierigen Situation für Homosexuelle ist weder ein staatliches Verfolgungsprogramm festzustellen noch sind die Übergriffe aktuell so zahlreich, dass jede homosexuelle Person begründet befürchten müsste, in Anknüpfung an ihre sexuelle Orientierung selbst Opfer von Übergriffen zu werden.

Individuelle Besonderheiten beim Kläger, die eine möglicherweise abweichende Einschätzung erforderlich machen würde, sind nicht ersichtlich. Das Gericht konnte nicht feststellen, dass er sich in besonderer Weise und öffentlichkeitswirksam für Homosexuelle oder andere sexuelle Minderheiten einsetzte und daher in den Blick der russischen Sicherheitskräfte geraten wäre. [...]