VG Braunschweig

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Zitieren als:
VG Braunschweig, Beschluss vom 01.12.2022 - 2 B 278/22 - asyl.net: M31169
https://www.asyl.net/rsdb/m31169
Leitsatz:

Systemische Mängel im italienischen Asylsystem wegen drohender Obdachlosigkeit:

"Geflüchteten droht infolge ihrer Rückführung nach Italien eine unmenschliche und erniedrigende Behand­lung in Form von Obdachlosigkeit sowohl im Zeitraum bis zur förmlichen Registrierung ihres Asylantrags als auch nach Zuerkennung eines Schutzstatus und dem Ausscheiden aus dem staatlichen Aufnahmesystem."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Italien, besonders schutzbedürftig, alleinerziehend, Kindeswohl, Obdachlosigkeit, Dublinverfahren, Dublin III-Verordnung,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1 Bst. a, AsylG § 34a Abs. 1, VO 604/2013 Art. 3 Abs. 2 S. 1, EMRK Art. 3, GR-Charta Art. 4,
Auszüge:

[...]

28 Den Antragstellern droht in Italien sowohl in dem Zeitraum zwischen ihrer Rückführung und der förmlichen Asylantragstellung wie auch nach dem Abschluss ihres Asylverfahrens eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung in Form von Obdachlosigkeit (vgl. VG Bremen, Gerichtsbescheid vom 04.07.2022 - 6 K 2242/21, 8484185 -, juris). Für die Anwendung von Art. 4 GRC ist es gleichgültig, ob es zum Zeitpunkt der Überstellung, während des Asylverfahrens oder nach dessen Abschluss dazu kommt, dass die betreffende Person aufgrund ihrer Überstellung an den zuständigen Mitgliedstaat im Sinne der Dublin-III-Verordnung einem ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erfahren. [...]

29 Eine Gefahr von Obdachlosigkeit besteht zum einen im Vorfeld der förmlichen Registrierung als Asylsuchender, weil Geflüchtete in dieser Phase kein Recht auf Unterkunft haben. [...]

31 Die italienische Gesetzgebung legt fest, dass ein Antragsteller das Recht hat, eine Unterkunft zu erhalten, sobald er den Willen bekundet hat, internationalen Schutz zu suchen. Die Aufnahme in das Asylsystem erfolgt dabei jedoch erst nach der Formalisierung des Antrags, dem Ausfüllen des entsprechenden Formulars. Diese Praxis hat zur Folge, dass Asylbewerber, einschließlich Dublin-Rückkehrer, bis zur Registrierung ihres Asylantrags ohne Unterkunft – und damit auch ohne angemessene medizinische Behandlung – bleiben (Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH), Situation of asylum seekers and beneficiaries of protection with mental health problems in Italy, Februar 2022, S. 12). Vor der förmlichen Registrierung ihres Asylantrags haben Geflüchtete lediglich Anspruch auf medizinische Notversorgung. Zudem sind sie in diesem Stadium dem Risiko einer willkürlichen Verhaftung und Abschiebung ausgesetzt (ASGI, a. a. O.; SFH, Reception conditions in Italy Updated: report on the situation of asylum seekers and beneficiaries of protection, in particular Dublin returnees, in Italy, Januar 2020, S. 28). Nach den vorliegenden Erkenntnismitteln kann sich diese Phase auf mehrere Wochen oder sogar Monate erstrecken. [...]

33 Zudem stellen spezielle Anforderungen der lokalen Questura-Büros weitere Hindernisse beim Zugang zum Asylverfahren dar. [...]

34 Obwohl in Art. 4 und 5 des italienischen Aufnahmeerlasses klargestellt wird, dass das Fehlen eines Wohnsitzes kein Hindernis für den Zugang zu internationalem Schutz darstellt, verweigerten Questura-Büros im Jahr 2021 darüber hinaus in einigen Fällen den Zugang zum Verfahren wegen des fehlenden Nachweises des Wohnsitzes, z. B. durch einen Mietvertrag oder eine Gastfreundschaftserklärung einschließlich des  Ausweises der aufnehmenden Person. [...]

35 Ferner droht den Antragstellern Obdachlosigkeit nach ihrem Ausscheiden aus dem Asylverfahren im Falle der Zuerkennung eines internationalen Schutzstatus durch die italienischen Behörden. [...]

36 Das italienische System basiert auf der Annahme, dass Personen mit Schutzstatus für sich selbst sorgen können und müssen. Nach der Gewährung eines Schutzstatus sind anerkannte Geflüchtete nicht mehr berechtigt, in Erstaufnahmeeinrichtungen oder CAS ("Centro di Accoglienza Straordinaria") zu bleiben. Zwar dürfen sie zunächst SAI-Unterkünfte ("Sistema di accoglienza ed integrazione", ehemals SPRAR/SPROIMI) aufsuchen, doch da die Plätze in den SAI knapp sind, entsteht in der Praxis eine Schutzlücke (aida, a.a.O., S. 213). [...]

38 Sowohl vor ihrer förmlichen Registrierung als Asylantragsteller als auch nach der Zuerkennung eines Schutzstatus wird die Antragstellerin zu 1) somit voraussichtlich gezwungen sein, mangels Zugang zu Aufnahmeeinrichtungen und sonstigem öffentlichem Wohnraum eine Unterkunft auf dem privaten Markt zu suchen. Doch die tatsächliche Verfügbarkeit von Mietwohnungen ist knapp, weil mehr als 75 % der Familien in Italien Eigentümer des Hauses sind, in dem sie wohnen, und 60 % der Immobilien im Besitz von Einzelpersonen sind, die sie als Hauptwohnsitz nutzen, während Mietwohnungen nur 10 % aller auf dem nationalen Territorium verfügbaren Wohnungen ausmachen. [...]

39 Es ist unwahrscheinlich, dass die Antragstellerin zu 1) überhaupt in der Lage wäre, die finanziellen Mittel für eine private Wohnung aufzubringen. Denn nach ihren glaubhaften Angaben hat sie ihre sämtlichen Ersparnisse aus ihrer Arbeitstätigkeit im Iran aufgebraucht, um den Schleuser und die Ausreise nach Deutschland zu finanzieren. Folglich bräuchte sie eine Arbeitsstelle, um die Miete zahlen zu können. Doch im Allgemeinen bestehen für Geflüchtete Schwierigkeiten beim Zugang zum Arbeitsmarkt. In Anbetracht der derzeit hohen Arbeitslosigkeit in Italien ist es für Asylsuchende und Personen mit Schutzstatus äußerst schwierig, Arbeit zu finden. Schwarzarbeit ist verbreitet. Viele Zuwanderer arbeiten in der Landwirtschaft, oft unter prekären Bedingungen und sind anfällig für Ausbeutung. Im Allgemeinen sind die wenigen Arbeitsplätze, die Asylsuchenden und Schutzberechtigten zur Verfügung stehen, schlecht bezahlt und zeitlich begrenzt. Der Lohn reicht in der Regel nicht aus, um eine Wohnung zu mieten oder einer Familie ein sicheres Einkommen zu bieten. [...]

40 Für Personen mit geringem Einkommen gibt es zwar seit März 2019 das sogenannte Bürgergeld ("Reddito di Cittadinanza"; ersetzt das Arbeitslosengeld). Dieses wird jedoch nur Antragstellern gewährt, die mindestens die letzten zehn Jahre in Italien wohnhaft waren, davon mindestens zwei Jahre mit einem ununterbrochenen Wohnsitz. [...]

41 Zusätzlich zu den oben beschriebenen Problemen haben Geflüchtete insbesondere in den letzten Jahren eine zunehmende Stigmatisierung und Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt erlebt. [...]

42 Zwar gibt es regional organisierte Notunterkünfte, die meist von Trägern des sog. Dritten Sektors, also nicht staatlich von Nichtregierungsorganisationen oder kirchlichen Organisationen, betrieben werden. Diese sind jedoch nicht langfristig ausgerichtet, manche von ihnen haben Verträge mit der Gemeinde und werden vor allem zu Winterzeiten geöffnet. Die Dauer dieser Projekte der Aufnahme hängt von der Verfügbarkeit der finanziellen Mittel ab, sie sind mithin nicht kontinuierlich garantiert. Diese Einrichtungen haben nur wenige Plätze zur Verfügung, die die Nachfrage nach Unterbringung derer, die auf der Straße leben müssen, nicht decken. [...]

43 Weil somit nicht davon ausgegangen werden kann, dass die Antragstellerin zu 1), bevor ihr Zugang zum Aufnahmesystem gewährt wird bzw. nachdem dieser Zugang mit dem Abschluss des Asylverfahrens erloschen ist, weder eine Sozialwohnung noch eine Wohnung auf dem privaten Wohnungsmarkt noch einen dauerhaften Platz in einer Notunterkunft finden wird, droht ihr und ihren Kindern in diesen Phasen ein Leben auf der Straße. [...]

45 Sofern andere Verwaltungsgerichte (VG Bremen, Beschluss vom 13.01.2022 - 6 V 828/21, 8345068 -, juris; VG Greifswald, Urteil vom 17.11.2022 - 3 A 1301/22 HGW -, juris Rn. 38; VG Dresden, Beschluss vom 02.11.2022 - 12 L 745/22.A, 9468164 -, juris, VG Cottbus, Urteil vom 08.09.2022 - VG 5 K 754/19.A, 7791080 -, juris; VG Köln, Urteil vom 25.08.2022 - 8 K 7119/19.A -, juris Rn. 58) die Gefahr einer Obdachlosigkeit damit abtun, dass die Geflüchteten auf kommunale Notunterkünfte zugreifen könnten, überzeugt dies aus den ausgeführten Gründen nicht. Es ist nicht nachvollziehbar, dass Notunterkünfte eine gangbare Lösung sein sollen, insbesondere, wenn die Gerichte zugleich einräumen, dass die genaue Anzahl an Plätzen in Notunterkünften schwierig auszumachen ist, sich die Plätze aufgrund der Covid-19-Pandemie reduziert haben, die Nachfragen infolge der Wirtschaftskrise indes gestiegen sind und Italien keinen nationalen Plan hat, der eine Erhöhung der Anzahl an Plätzen für die vorübergehende Unterbringung von Obdachlosen vorsieht. [...]

46 Ein, wenn auch nur vorübergehendes, Leben in Obdachlosigkeit würde für die Antragstellerin zu 1) und ihre minderjährigen Söhne eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung darstellen.

47 Die Lebensbedingungen von Asylbewerbern und Flüchtlingen in besetzten Häusern, Slums und auf der Straße sind miserabel. Sie leben am Rande der Gesellschaft, ohne Aussicht auf eine Verbesserung ihrer Situation. Sie kampieren meist in kleinen Gruppen in Randgebieten, wo die Polizei sie nicht finden kann, um sie für das Schlafen im Freien zu bestrafen. Infolgedessen haben sie nicht nur keinen Zugang zu territorialen Sozial- und Gesundheitsdiensten, sondern auch zu den elementarsten Gütern wie Wasser, Lebensmitteln und Strom. Ihr Alltag besteht aus der Deckung ihrer Grundbedürfnisse, wie der Suche nach Nahrung und einem Schlafplatz (SFH, Reception conditions in Italy Updated, Januar 2020, S. 58, 69). Geflüchtete ohne festen Wohnsitz haben zudem kaum Zugang zu medizinischen Leistungen, denn, um sich beim nationalen Gesundheitsdienst (SSN) anzumelden, müssen sich Asylbewerber oder Personen mit Schutzstatus an das örtliche ASL ("azienda sanitaria locale", lokale Gesundheitsbehörde) wenden und dort u. a. eine gültige Aufenthaltserlaubnis, eine Wohnsitzbescheinigung bzw. eine Erklärung über den tatsächlichen Aufenthalt, wie auf der Aufenthaltserlaubnis angegeben, sowie eine Steueridentifikationsnummer vorlegen. Dies stellt ein schwer überwindbares Hindernis dar sowohl für asylsuchende Personen, deren Anträge noch nicht formell bei der Questura registriert wurde, als auch für Personen mit internationalem Schutz, die obdachlos geworden sind und deshalb Schwierigkeiten haben, ihre Aufenthaltserlaubnis zu verlängern und/oder einen Wohnsitznachweis zu erbringen. [...]

48 Zudem mangelt es in Italien an Unterstützungsleistungen für Obdachlose. [...]